Von der Dringlichkeit der Brache

Franziska Weinberger. Foto Miro Kuzmanovic

Von Carina Jielg

Der im vergangenen Jahr verstorbene österreichische Konzeptkünstler Lois Weinberger prägte maßgeblich den Diskurs über Kunst und Natur. Mit seinen mittlerweile ikonischen Aktionen, etwa als er mitten in Salzburg zur Festspielzeit den Asphalt aufriss oder bei der documenta in Kassel ein Bahngleis mit Neophyten aus Südosteuropa bepflanzte, setzte er radikale Zeichen. Seine Werke, die er seit den 2000er Jahren in Zusammenarbeit mit seiner Frau Franziska Weinberger realisierte, sind visionäre Auseinandersetzungen mit den Problematiken des Anthropozäns: Fluchtbewegungen, Artensterben, Überhitzung des Planeten, Müll. Das Kunsthaus Bregenz widmet Weinberger aktuell eine Ausstellung im Basement und draußen. Franziska Weinberger hat sie mitgestaltet.

Auf dem Vorplatz des Kunsthauses stehen hunderte weiße Eimer gefüllt mit Erde, angeordnet zu einem präzisen Feld. Lois Weinberger nannte diese Arbeit „Mobiler Garten“. Er hat viele solcher Gärten weltweit realisiert.
Der Garten hier ist gar nicht so mobil, wenn man bedenkt, dass er viele, viele Tonnen wiegt, aber es ist der ideale Standort: für eine Lücke im urbanen Raum. Man kann hier die sogenannte natürliche Sukzession mitverfolgen, man kann im Vorbeigehen schauen was passiert. Jetzt ist da nur Ackererde, da drin ist schon einiges an Saatgut und dann kommt dazu, was Vögel und der Wind vorbeibringen. Man wird sehen wie sich der Garten entwickelt.

Warum ist das so ungeheuer politisch?
Weil es solche Lücken ja eigentlich gar nicht mehr gibt, weil es aber aufzeigt, wie wichtig sie wären. Das „wasteland“, die Brachen, die interessierten Lois eminent und er „setzte sich für sie ein“, denn unsere Böden in den Städten sind versiegelt, es ist nichts mehr übrig für Tiere, Insekten oder wer sonst noch da leben will. Man sollte wieder Platz schaffen für diese Lücken.

Im Basement des Kunsthauses wird unter anderem eine Mappe gezeigt, die 1971 von einem Schweizer Pharmakonzern herausgegeben wurde, darin aufgelistet die „Europäischen Unkrautgemeinschaften“ und wie man sie loswerden kann. Lois Weinberger machte die Mappe zum Readymade. Warum?
Lois ist auf einem Bauernhof in Tirol aufgewachsen. Die Natur hat ja auf einem Hof absolut keine romantische Seite. Es geht vielmehr darum, das tägliche Leben zu bewältigen und die enge Verbindung, die man in der bäuerlichen Welt einging zwischen Boden und Leid, Mühe, Arbeit, aber auch Freude, die kannte auch Lois. In den 1960er und 1970er Jahren war „Unkraut“ auf dem Hof ein alltägliches Problem. Es ging darum, wie man es wieder loswird, damit man bessere Erträge erzielt, damit man mehr herausholen kann. In diesem Bewusstsein ist Lois aufgewachsen. In den 1990ern, also nachdem er begonnen hat sich anders und künstlerisch mit „Unkraut“ auseinanderzusetzen und dafür den botanischen Begriff Ruderal-Pflanzen zu verwenden, da hat ihm jemand diese Mappe geschenkt. Die Erinnerung an die Kindheit war wieder da, aber aus einem neuen Blick heraus. Pflanzen waren ihm immer zentrales Thema, für ihn waren sie das Medium, also wie ein Zeichenstift oder wie Farbe. Pflanzen waren Vehikel um Dinge, Sichtweisen zu transportieren, für alles, was ihn interessiert hat, ihm wichtig war, auch für seine politische Haltung.

War also die Beschäftigung mit Pflanzen für ihn auch so etwas wie ein Befreiungsakt?
Natürlich. In ihm war immer sehr viel Widerstand gegen diese bäuerliche Welt seiner Kindheit, in einem Dorf, das von einem großen Kloster beherrscht worden ist. Da kommt also noch eine Komponente dazu, die er sehr kritisch gesehen hat, gegen die er sich gewehrt hat. Und er war, das sagte er immer wieder, ungeheuer froh, dass er nicht der Älteste war und den Bauernhof übernehmen musste.


Noch einmal kurz zu dieser Mappe aus der Schweiz. Wir sind hier ja in unmittelbarer Nachbarschaft, im Rheintal. Wenn Lois Weinberger durch die Landschaft fuhr – was hat er gesehen: die geordneten, unkrautbefreiten Gartenanlagen oder die Straßen, die sich betongrau durch die Landschaft „fressen“?

Er hat sicher beides gesehen. Und er hat gesehen was fehlt: die Lücken, die Brachen. Und, dass sie im urbanen Raum immer mehr verschwinden. Das führte auch zu den Aktionen, bei denen er den Asphalt aufgebrochen hat, in Salzburg 1993 während der Festspielzeit. Da ist die ganze Stadt behübscht, jedes Pflänzchen, das stört, wird entfernt, die Bodenplatten gehen bis zu den Gebäuden und umgekehrt. Da hat es ihn besonders gereizt, mitten in der Stadt einen großen Flecken Asphalt aufzubrechen und Wildwuchs zuzulassen.

Ähnlich radikal waren ja auch die späteren „Wild Cube“-Arbeiten. Mit Roststahl eingefriedete „Käfige“, Wildwuchsgärten. Pflanzen, die durch Zäune geschützt sind.
Für Lois war die eigentliche Skulptur ja nicht die Stahlkonstruktion, der Zaun, sondern das Innere. Der „Wild Cube“ auch als Gegensatz zum „White Cube“.

2004 hat der Kunstraum Dornbirn seinen Standort in der alten Montagehalle beim Inatura-Naturmuseum mit einer Ausstellung von Ihnen beiden eröffnet. „Wir sind des Baumes müde“ haben Sie diese Ausstellung genannt, nach einem Zitat des Philosophen Gilles Deleuze.
Wenn man etwa daran denkt, dass Joseph Beuys noch die Eichen gepflanzt hat in Kassel und dann kommen die beiden Theoretiker Deleuze und Guattari und schreiben „Wir sind des Baumes müde“, dann hat das auch auf einer ganz formalen Ebene enorme Sprengkraft: die Beuys‘sche Überfigur, an der haben sich die jüngeren Konzeptkünstler schon sehr abgearbeitet. Lois sah das dann auch als willkommene Herausforderung als er 1997 nach Kassel zur documenta eingeladen wurde. Lois hat dort intuitiv für seine Arbeit „das über Pflanzen ist eins mit ihnen“ ein stillgelegtes Bahngleis gewählt, um seine Haltung der Natur gegenüber zu zeigen. Während Beuys 7.000 Eichen im Stadtraum pflanzte, setzte Lois zwischen den Schienen, die früher mit Gift von Bewuchs freigehalten wurden, Pflanzen aus Süd- und Osteuropa ein. Denn an diesem Bahngleis kamen früher auch Züge von dort an. Das Zitat „Wir sind des Baumes müde“ hat natürlich noch andere Bedeutungsebenen, es meint, dass Wissensverbreitung nicht mehr nach dem Baumprinzip, dicker Stamm und kleinere Äste, passieren sollte, sondern nach dem Wuchsprinzip des Rhizoms. Das ist etwas, das keine Hauptwurzel hat und sich flächig ausbreitet, wie das Myzel von Pilzen.


Lois Weinberger hat gesagt „Die eigentlichen Gärten liegen im Untergrund“. Untergrund hat auch viel mit Verstecken und Finden zu tun, mit Ausgraben. Das führte zur Arbeit „Debris Field“, also Trümmerfeld.
Dafür hat Lois sein über 700 Jahre altes Elternhaus, den Bauernhof und einst eine Herberge des benachbarten Klosters Stams, erkundet, also auch geschaut, was ist unter dem Boden des Dachbodens. Da kam allerhand aus den Jahrhunderten zum Vorschein, Münzen, barocke Stofffetzen, Schriften, Pilgerzeichen oder einzelne Schuhe – 60 einzelne Schuhe! Die wurden „vergraben“, wenn jemand verstorben ist. Es fanden sich religiöse Dinge wie Ablassbriefe oder Beichtzettel, aber auch Kultgegenstände aus dem Brauchtum, aus dem Bereich des Aberglaubens. Tierschädel, Knochen, eine ganze mumifizierte Katze, Klammern, Spangen, et cetera.
Die Kultgegenstände, die nichts mit der Kirche zu tun haben, zeugen vom Druck, der auf den Leuten damals gelastet hat, aber sie zeugen auch davon, dass sie sich ihre Freiräume geschaffen haben. Man wusste wohl damals: man darf alles denken, aber man darf nicht alles sagen, was man denkt.

Das erzählt viel über die Bedeutung des Vergrabens.
Ja, das stimmt. Entweder man versteckt etwas bewusst, um es zu schützen oder um es aus dem Blickfeld zu haben. Aber ganz los wird man Dinge ja nie. Wie wir inzwischen auch durch unseren Umgang mit Müll wissen – der bleibt immer irgendwo. Lois war 1998 eingeladen, in Israel einen Müllberg von 65 Hektar Grundfläche künstlerisch zu gestalten. Lois hat die Müllhalde besucht, sich dort aufgehalten und unglaubliche Dinge gefunden: Fotos, Videokassetten aus der Schweiz, lebende Hühner, die aus Kibuzzen frei gelassen wurden, weil sie keine Eier mehr legten. Die Leute wollten sie loswerden, aber sie lebten weiter im Müll.

Nun zeigt das Kunsthaus Bregenz Lois Weinbergers Arbeiten im Basement, im Untergrund. Ist das der ideale Ort?
Absolut. Es werden dort kleinere Erdfiguren gezeigt, die Lois gemacht hat. Dazu hat er gesagt: „Ich mache Basics, Grundlagen.“ Das sind auch Fundamente für die Arbeiten jüngerer Künstlergenerationen. Das hat man schon über die Jahre gemerkt, dass er einflussreich war, dass seine Visionen sich verfestigt haben, sei es das Rhizom, sei es den „One World“-Gedanken betreffend, der besagt, dass alles die gleiche Berechtigung hat.
Lois hat dazu mal etwas Lustiges bemerkt, er meinte: „Vielleicht werden sich in 100 Jahren die Menschen über uns wundern und sagen: das waren solche Barbaren zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die haben sogar die Pflanzen gegessen.“


KUB Basement und KUB Platz
Lois Weinberger
1. Mai bis 4. Juli 2021, Kunsthaus Bregenz

kunsthaus-bregenz.at


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