Was du bist

Foto: Annett Melzer
Essay von Andreas Weber
Wenigen von uns schlägt nicht bei der Begegnung mit dem ersten Krokus, Winterling oder Märzenbecher das Herz ein Stück schneller, freudiger oder beruhigter. „Da bist du ja wieder“, mögen wir im Geiste sprechen. „Wieder“, wie im letzten Jahr, im Frühling davor und vor dem alle Jahre, „wieder“, nach dem Sich-zur-Ruhe-Legen und Absterben im Winter, „wieder“, wie auch wir nach vielen Abschieden. Abermals ein Wesen, das neu geboren wird, wie wir selbst geboren wurden und erneut geboren sein werden, wie wir in vielen kleinen Dingen immer neu zu uns kommen.
Im Sanskrit gibt es einen Satz, der diese Begegnung mit dem, was wir auf intime Weise kennen, als Schlüssel für das Verständnis der Wirklichkeit beschreibt: „Ta Tvam Asi“ – „Auch das bist du“. Jeder von uns ist das Ganze in seiner individuellen Form. Die gelben Kelche der Winterlinge, das Ganze, das sich uns öffnet, die an zarten Fäden aufgehängten Kelche der Märzenbecher, das Ganze, das sich verletzlich hingibt, wieder und wieder, nachdem es schon viele Male verging und zurückkehrte.
Dass sich die Welt in Kreisläufen organisiert, ist der Nachweis, dass alles eins ist. Etwas lebt auf, blüht, verwandelt sich, wirft Samen und geht zugrunde. Es geht in den Grund, der alles trägt und aus dem es erneut hervortreibt. Der Kreislauf spart uns nicht aus. Er verbürgt, dass nichts, was an ihm teilnimmt, jemals stirbt. Denn es ist ja nichts Einzelnes, Abgesondertes, sondern das Eine, das sich immer wieder neu verwandelt, das sich zeigt und sich verbirgt, aber nicht vergeht – unsterblich und ungeboren, wie es in einer anderen Upanishade heißt. Auch das bist du.
Die blassseidenen Märzenbecher, die Krokusse mit ihrem Violett und Dottergelb machen es uns leicht, das zu sehen. Sie machen die tiefe Freude zugänglich, zu diesem einen Ganzen gehören zu dürfen. Das ist die Wurzel der Freude, die Menschen empfinden, wenn sie der Natur begegnen. Natur, dieses Eine, das auch du bist. Die Dichterin und Pionierin der Psychoanalyse Lou Andreas-Salomé erklärte so die Beglückung, die Menschen angesichts der „Blättchen und Blütenköpfchen“ empfinden, die nach dem Winter hervortreiben: Sie berühren uns, weil, so Andreas-Salomé, „wir selbst Frühlinge sind“.
Wenn wir uns im Kreise drehen, dann heißt das, wir kommen nicht von der Stelle, wir wiederholen immer dasselbe. Ein Kreislauf ist der Beleg dafür, dass etwas auf der Stelle bleibt, dass ein einziges sich immer wieder in sich selbst recycelt, dass eines in aufeinanderfolgenden Formen erscheint. Diese Formen aber führen immer wieder auf ihresgleichen zurück, weil es außerhalb ihrer nichts gibt.
Darum ist der Zenit der Kreisbahn nichts anderes als ihr Nadir, das Drängen des Wachsens, Aufblühens und Schwellens nichts anderes als der Tod. Es ist dasselbe Eine, in einem anderen Zustand. Darum ist ein Individuum auch jedes andere. Hier ebenso ist das fremde Subjekt nichts weiter als eine andere Phase meiner selbst. Es ist meine alternative Erscheinungsform, so wie das Eis ein weiterer Zustand des gleichen H2O ist. Jede Form wird sich unausweichlich in eine andere verwandeln. Auch das bist du.
Kreisläufe sind der Beweis, dass es nicht vieles gibt, sondern nur eins. Es sollte sich darum bei gewissenhafter Suche belegen lassen, dass es genau genommen nichts als Kreisläufe gibt, dass schlechthin alles in Kreisläufen erfolgt und dass diese Kreisläufe alle untereinander verbunden sind, sowohl in der Welt unserer individuellen Fährnisse als auch der stofflichen Wirklichkeit, der Biogeochemie der Erde. Und genau das ist der Fall. Alles wird beständig wieder zu allem. Unsere einzig relevante Tätigkeit ist das Verwandeln, das Uns-selbst-und-andere-Verwandeln, und nichts anderes ist die Tätigkeit aller anderen Wesen und selbst all jener Teilnehmenden an dieser einen Wirklichkeit, die wir gewöhnlich als Dinge bezeichnen.
Bernd Heinrich schreibt in seinem Buch „Leben ohne Ende“ (Naturkunden, 2019), das den Tod im Lebenszyklus verhandelt: „Wir sind aus Leben und wir sind ein Übergang in ein anderes Leben.“ In diesem Prozess ineinander verflochtener Kreise, der kein Ende kennt, sagt der Biologe, „werden unsere Ausscheidungen unmittelbar in Käfer, Gras und Bäume recycelt, die ihrerseits in Bienen und Schmetterlinge umgewandelt werden, diese in Fliegenschnäpper und Finken, in Habichte und wieder zurück in Gras, dieses in Rotwild, Rinder und Ziegen, und die – in uns.“
Was wir Kreislauf nennen, ist immer auch eine Spirale. Nach dem Tod kommt eine Geburt – aber nicht die des Individuums, das sein Leben gelassen hat, sondern eines anderen. Oder es erfolgt die Wiedergeburt meiner selbst, aber als Gewandelter. Eine Spirale ist eine Folge von Zyklen, die sich in ihrem Kreisen durch die Zeit oder den Raum schraubt. Zöge man unter der sich fortschreibenden Kreislinie ein Papier durch, so zeigte der entstehende Kurvenschrieb eine Schwingung, eine Abfolge von Wellen. Wellen, wie die auf dem Meer oder wie Schallwellen. Ein Kreislauf, über die Zeit verfolgt, ist eine Melodie.
Schall erzeugen wir mit unserem Atem. Auch der Atem bildet einen Zyklus, ein Anfluten und Verebben. Ein- und Ausatmen ist Bestandteil unseres Körperkreislaufs und verbindet uns zugleich mit dem Gras und den Bäumen. Mit jedem Ausatmen schenken wir unseren eigenen Körper in Form von Kohlendioxid den Pflanzen, aus deren Körpern wiederum unsere Nahrung hervorgeht. Im Grunde sind alle einzelnen Körper einer, ein einziger unfassbar großer Organismus. Wir sind alle der Ozean des Lebens. Wie ein Individuum hat jede Welle ihre eigene Form und zugleich ist sie nichts als das eine Wasser.
Auch die Kreisläufe, die uns als das Ganze enthüllen, sind nicht auf Lebewesen beschränkt. Im Gegenteil, natürliche Zyklen weisen nach, dass es keinen Sinn hat, die Welt zwischen lebenden Wesen und „toter Materie“ aufzuteilen. So sind wir stets Teil des Wassereinzugsgebiets, in dem wir uns befinden, ein fein und immer feiner verästelter Fluss, der sich wieder in einen natürlichen Wasserlauf ergießen wird, wenn er uns verlässt – oder der in die Luft verdunstet und dort Wolken formt, die eines Tages auf die Erde abregnen werden.
Selbst der Berg ist eine unserer zyklischen Identitäten. Wir waren einmal Fels und wir werden wieder Felsen sein. Die österreichischen Kalkalpen etwa entstanden aus den Schalen winziger Tiere und Algen im prähistorischen Ozean. Heute löst der Regen aus ihrer Masse stetig Kalk heraus. Dieser findet dann als Mineral den Weg in den Körper der Tiere und so auch in unseren, wo er die Knochen und Zähne bildet.
Wenn wir den kühlen, scheinbar ewigen Stein der Alpen berühren, dann sagt er zu uns: „Ta Tvam Asi“ – „Auch das bist du“.
Der Biologe, Philosoph und Schriftsteller Andreas Weber, ergründet Lebendigkeit als sinnliche, subjektive, geteilte und poetische Erfahrung. Er lehrt regelmäßig an der Universität der Künste, Berlin und an der UNISG, Pollenzo, Italien.

Andreas Weber
Essbar sein
Versuch einer biologischen Mystik
208 S., thinkOya
ISBN: 978-3-947296-09-5, 2023