Was ist Fortschritt?
Kolumne von Sarah Kleiner
Das vorliegende Magazin widmet sich ja der Transformation, dem Wandel unserer Energieversorgung, unseres Verkehrs, unserer Städte und Gebäude. Alles wird intelligent, wird „technologisiert“, wird digital aufgerüstet. Zu gern würde ich eine Lobeshymne darauf singen. Aber ich stehe der Digitalisierung in manchen Bereichen auch kritisch gegenüber.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es gibt Errungenschaften, vor allem in der Medizin, die unglaublich sind und tausenden Menschen tagtäglich das Leben retten. Dass der Mensch es geschafft hat, Maschinen und Softwares zu entwickeln, die sein Denken imitieren, Kraftwerke, die auf die selbe Art Energie produzieren, wie es die Sonne macht – unglaublich. Aber die Abschaffung von Bargeld zum Beispiel, die ja durchaus für die Zukunft diskutiert wird, ist mir dann nicht mehr so geheuer. Oder eine Welt, in der wir alle in dem virtuellen „Metaversum” aus dem Silicon Valley leben. (Der englische Begriff „Metaverse” stammt übrigens aus dem Science-Fiction-Roman „Snow Crash” von Neal Stephenson. In dieser dystopischen Version einer nicht allzu fernen Zukunft fliehen die Menschen vor der tristen anarcho-kapitalistischen Wirklichkeit in ein virtuelles Paralleluniversum. Nicht sehr hoffnungsfroh.)
Kein technisches Device kann unseren Zugang zur Natur, den Respekt und die Bewunderung, die wir für sie übrig haben sollten, wettmachen.
Laut einer Umfrage der Plattform „Safer Internet” haben inzwischen 72 Prozent aller 0- bis 6-jährigen Kinder in Österreich Zugang zum Internet. Mehr als ein Fünftel dieser Kinder hat bereits ein eigenes Smartphone oder Tablet – und die tägliche Bildschirmzeit nimmt stetig zu. Eine kanadische Studie, publiziert vergangenen Dezember, fand dabei heraus, dass je höher diese Bildschirmzeit von Kindern und Jugendlichen war, desto öfter traten psychische Probleme auf. Vielleicht bin ich ja altmodisch, aber ehrlich gesagt finde ich es allein schon furchtbar, Jugendliche in der U-Bahn zu sehen, die auf ihr Handy gucken und keine zwei Sekunden Augenkontakt mit einer fremden Person halten können.
Vor allem seit der Coronapandemie, die auch in Form von staatlichen Geldern einen immensen Anschub für die Digitalisierung bedeutete, habe ich das Gefühl, dass viele Menschen immer mehr in ihre virtuellen Persönlichkeiten abdriften. Auf Social Media können wir sein, wer wir wollen, uns darstellen, wie wir in echt gerne wären. Jeder ist plötzlich Aktivist, jeder ein Menschenfreund, solange er nur jede*r schreibt. Und im echten Leben? Da fällt uns das Kommunizieren immer schwerer. Von der Masse abweichende Meinungen werden rauer kommentiert oder deren Urheber gleich völlig ins Aus gedrängt.
Ich selbst hatte ja ziemliches Glück als Kind. Ich bin am Land aufgewachsen, im Grünen, unser Haus war umgeben von Wiesen und Feldern. Im naheliegenden Wald habe ich mit meiner Schwester „Pocahontas“ nachgespielt. Ein paar hundert Meter weiter war eine Art natürlicher Teich, eigentlich eine überdimensional große Pfütze in der Wiese – der mysteriöse Sumpf in meiner kindlichen Fantasie. Von Sommer zu Sommer ist er kleiner geworden, irgendwann war er komplett verschwunden.
Vor Kurzem habe ich oberösterreichische Landwirte besucht. Sie haben erzählt, dass man die Trockenheit bereits deutlich merken würde. Bei neuen Brunnengrabungen müsse man schon meterweit in die Tiefe bohren, um auf Wasser zu stoßen. Der Grundwasserspiegel in manchen oberösterreichischen Gegenden ist bereits um vier Meter gesunken. Als ich dort war, Mitte Mai, hatte es gerade das erste Mal im Jahr 30 Grad – eine Temperatur, die ich in meiner Kindheit mit Hochsommer, Juli und Sommerferien assoziierte. Während ich diese Zeilen schreibe, zieht eine Hitzewelle über Indien, die den Menschen Temperaturen von bis zu 50 Grad beschert. Dehydrierte Vögel fallen halb tot vom Himmel. Kein Witz.
Wie lang werden wir noch die Möglichkeit haben, den Kindern solche Erfahrungen, wie ich sie damals gemacht habe, zu bieten? Werden Digitalisierung und Technologie wirklich in der Lage sein, die Klimakrise aufzuhalten, ohne dass ein grundsätzlicher gesellschaftlicher Wandel stattfindet? Wissen Sie, was Rebound-Effekte sind? Dabei werden Ziele, die durch Effizienzsteigerung von Produkten und Dienstleistungen angestrebt werden, nicht erreicht, weil sich das Verhalten der Nutzer verändert. Ein Beispiel: Pkw werden durch eine Effizienzsteigerung günstiger, was nicht dazu führt, dass viele kleine, effiziente Pkw unterwegs sind, sondern dass größere Modelle gekauft werden. Diesen Effekt beobachten wir gerade am SUV-Trend.
Kein technisches Device kann unseren Zugang zur Natur, den Respekt und die Bewunderung, die wir für sie übrig haben sollten, wettmachen. Ressourcenschonend zu leben, sollte unser höchstes Ziel sein. Eine Transformation, die wirklich in der Lage wäre, den Planeten – oder richtigerweise die Spezies Mensch – zu retten, müsste also in meinen Augen immer bei uns selbst beginnen.
Sarah Kleiner, geboren 1991 in Oberösterreich, arbeitet in Wien als freie Journalistin. Sie ist Chefin vom Dienst des ORIGINAL Magazins, engagiert sich ehrenamtlich bei der Redaktion „andererseits“, die sich für Inklusion im Journalismus einsetzt, und schreibt nebenher für Medien wie Der Standard, das Wiener Monatsmagazin DATUM oder auch die Plattform foodunfolded.