Was Menschen aushalten können

Von Verena Roßbacher

Ab und an gerät man an ein Buch, von dem man erfreut denkt: Das kann ich meinem Opa genauso schenken wie meiner Freundin. Ein Buch, perfekt, wenn Weihnachten vor der Tür steht und man am 23. die Nerven verliert, weil man noch immer nicht alle Geschenke beieinander hat. Die Buchhandlung unseres Vertrauens hat es prompt am nächsten Tag geliefert, der Friede während der Feiertage war gesichert. An allen anderen 364 Tagen im Jahr kann man es aber auch verschenken. Auch wenn es in dieser Geschichte durchaus mal schneit, ist es wahrlich kein Weihnachtsbuch. Es ist ein Buch für jede Zeit und für jedermann, das muss man als Autor erst mal hinkriegen.

Es vereint alles, was man zwischen zwei Buchdeckeln unterbringen kann: menschliche Größe und Niedertracht, Gewalt und Umsicht, Gefahren aller Art und ihre Überwindung – und etwas Weiteres, was uns magisch betört: Dies ist eine wahre Geschichte.
Die Wager ist ein zum Kriegsschiff umgebautes Handelsschiff und verlässt 1740 als Teil eines Geschwaders England, um gegen Spanien in den Krieg zu ziehen. An Bord: zweitausend Männer. Nur ein Bruchteil von ihnen wird zurückkehren.

Es beginnt schon suboptimal. Die größtenteils gepresste Mannschaft ist in keiner guten körperlichen Verfassung, die Krone hatte Mühe, genügend professionelle Seeleute aufzutreiben. Diese hier sind zu alt, zu krank, mit alten Kriegsverletzungen, mitunter fehlenden Gliedmaßen, alles in allem Voraussetzungen, die einen nicht dazu prädestinieren, eine derart gefahrvolle Fahrt anzutreten. Und gefahrvoll ist sie in der Tat. Der Pazifik um Kap Hoorn gilt als eine der schwierigsten Schiffsrouten der Welt: „Weil in diesen Breiten rund um den Globus kein Land ist, das Wind und Wellen aufhalten könnte, ist die See oft besonders rau. Die Wellen nehmen 20.000 Kilometer Anlauf und entwickeln auf dem Weg von einem Ozean zum anderen eine ungeheure Kraft. (…) Manche Wellen werden mehr als 30 Meter hoch und überragen nahezu jeden Mast. Häufig schwimmen todbringende Eisberge auf dem Wasser, die sich vom Packeis gelöst haben.“ Hinzu kommt, dass sich der Aufbruch immer weiter verzögert, die ideale Zeit – falls man von einer solchen überhaupt sprechen kann – ist um, als die Wager in See sticht.
Schon bei der erstbesten Herausforderung, der sich die Mannschaft stellen muss, denkt man sich als gemütlich zu Hause sitzender Leser: Schlimmer kann es nicht werden. Es ist aber nur das Fleckfieber, an dem sie laborieren, und es kommt weitaus schlimmer. Kaum davon erholt, breitet sich Skorbut aus, die „Pest des Meeres“. Nur wenige Jahre später weiß man, dass sich die mit regelmäßigen Dosen Vitamin C in Form von Zitronensaft oder Sauerkraut leicht verhindern lässt. Den Seemännern fallen die Zähne aus, längst verheilte Wunden fangen wieder an zu bluten, sie sind ob der Schwäche nicht mehr arbeitsfähig, verfallen in Depressionen und sterben wie die Fliegen. Das klingt schlimm, aber es kommt schlimmer. Nach Kap Hoorn zerschellt die Wager an ein paar Felsen. Gott sei Dank, denkt man, in der Nähe einer Insel. Eine Insel wie diese ist aber fast so schlecht wie keine Insel. Hier wächst nichts, hier lebt kein Tier, hier gibt es nichts, was man essen könnte, außer wildem Sellerie, und der hat mit den kindskopfgroßen Knollen, wie wir sie kennen, rein gar nichts zu tun. Das Wetter: eisig. Regen, Schnee und kalte Winde. Es kommt, wie es kommen muss: Die Mannschaft, zusehends unzufrieden mit ihrem Kapitän, zettelt eine Meuterei an. Diebstahl, Gewalt und Kannibalismus sind die Folgen der blank liegenden Nerven. Nach Monaten gelingt es zwei inzwischen verfeindeten Gruppen, gequetscht in zwei viel zu kleine Boote, die Insel in verschiedene Richtungen zu verlassen, die einen werden in Brasilien stranden, die anderen in Chile. Wer nun denkt, damit wäre dieses Abenteuer vorbei, die Rückkehrer womöglich als Helden gefeiert, der irrt. Denn nun beginnt der Streit um die Wahrheit.


David Grann ist es gelungen, anhand von Logbüchern, Briefen, Tagebüchern und Gerichtsakten diese ungeheuerliche Reise zu rekonstruieren, die sich in seiner Version liest wie ein Roman. Wir haben es mit dieser geschlossenen Gesellschaft an Bord mit einem perfekten Querschnitt durch die Gesellschaft der damaligen Zeit zu tun, wir sehen, was für eine immense Rolle die tiefe Verankerung von Hierarchie und Königstreue bei diesem Drama spielt, was Hunger, Not und Todesangst anrichten können und wie schnell niemand mehr weiß, wer Freund und wer Feind ist. Man kann viel verstehen anhand dessen, was der Crew hier widerfährt, über Gesellschaft, über den Mut Einzelner und das Menschsein an sich, darüber, wie viel man aushalten kann, wenn man muss, und wie froh wir sein können, das in dieser Form nicht zu müssen. Gutes Buch. Zum Verschenken und zum Behalten, ein richtiger Allrounder. 

David Grann
Der Untergang der Wager
Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei
432 S., C.Bertelsmann
ISBN 978-3-570-10546-7, 2024


Teilen auf:
Facebook