Was wurde bloß aus…
Essay von Kurt Bereuter
…dem oder der? Uninteressant. Okay, es gibt Ausnahmen und für die interessiere ich mich dann wirklich und werde vom Sein des anderen erfasst, so dass ich mich von Herzen gerührt fühle oder zu tiefst betroffen. Aber die entscheidende Frage – ohne ein übersteigerter Narzisst zu sein – bleibt doch die: „Was wurde aus mir?“. Und das „bloß“ verschweige ich geflissentlich.
Da war doch dieser kleine Junge, der die Tiere liebte, mit ihnen sprach wie mit kleinen Geschwistern, die zur Familie gehörten. Der den Hund des Nachbarn tröstete, wenn er geschlagen wurde, der Tierarzt werden wollte, der sich für das Leid – anders als damals der richtige Tierarzt – der Tiere interessierte und ihnen helfen wollte. Klar, dass er Tierarzt werden wollte. Später, als Junge, konnte er zuhören und es schien wohl manches mal, dass er mehr verstand, als es tatsächlich der Fall war. Vielleicht ging es auch gar nie darum – um das Verstehen – sondern nur um das Zuhören; und das konnte er. Am selbstgewählten Tod des einstigen Freundes hatte er mehr gelitten als es nötig gewesen wäre. Sein Vater meinte, es war gut so, der Tod des Freundes. Und beim Militär wäre er fast gebrochen, aber es blieb das schlimmste halbe Jahr seines Lebens und er bekam nebenbei beim Regimentsrapport die schnelle Diagnose des „Narzissmus“ und fühlte doch in sich den Goldmund erwachen und in sein Leben treten. Welch Glück. Und auf einsamen Wanderungen erschien ihm schon damals die Idee des „Begleiters“ von Menschen in Not oder wenigstens in Unzufriedenheit. Kafkaesk war der Berufseinstieg in eben jene Versicherungsanstalt und das Leben schrie nach mehr und wurde erhört. Die Studienjahre lehrten die Offenheit für neue Freundschaften und neue Welten im Geiste. Und sie blieben und prägten und wirkten.
Die Tiere blieben seine Leidenschaft und seine Familie(n) und seine Kinder wurden immer wichtiger und bedeutsamer – und das geht weiter und weiter und endet hoffentlich nie. Die Kultur und zivilpolitisches Engagement zerrten um die Gunst mit ihnen und werden immer mehr zu ihren Gunsten verblassen. So wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird, werden die Wellen immer größer, aber auch schwächer und irgendwann ist die Energie absorbiert und die Wellen verschwinden bis zur Unkenntlichkeit. „Was hattest du einmal für Ideale und was ist daraus geworden?“, fragte er einst seinen Vater. Was ganz vorwurfsfrei gemeint war, kam nicht so an und die ehrliche Antwort blieb aus. Er wusste nicht einmal, ob diese Frage seinen Vater berührte, aber ihn hatte sie nie losgelassen. Bis heute nicht. Vielleicht ist das gut, vielleicht macht es auch manches schwerer, aber letztlich erinnert es uns an das, was in uns war und nur verborgen, nur verdeckt, nur zugeschüttet immer noch da ist und darauf wartet, wieder entdeckt zu werden. Nicht genau gleich, wie damals, man kann nie zweimal in den selben Fluss steigen, aber der Fluss bleibt. „Von Zeit und Fluss“ sei hier die Rede und letztlich auch von „Schau heimwärts, Engel“ des grandiosen Literaten Thomas Wolfe. Tausend und mehr Seiten umfängt das Buch des Lebens und es endet mit dem letzten Tag und keine Stunde davor. Es ist immer noch ein Rest von Zeit zur Besinnung, für einen neuen Weg – im äußersten Fall – zur Umkehr. Dafür lohnt es sich in jedem Lebensalter sich umzusehen – sich zu orientieren, sich zu sammeln, sich nach kürzeren und längeren Wegen umzuschauen, nach kleinen oder größeren Abstechern auf den einen oder anderen „Gipfel“ aufzumachen oder die eine oder andere „Schlucht“ zu durchwandern. Der Blick wird geweitet, der Aufstieg wird zum Heil und das Ankommen zur Erfüllung. Dann, ja dann ist es Zeit für die Rast, für das Innehalten, für das Genießen da zu sein – für sich und andere. Und dann ist auch Zeit darüber nachzudenken, was Sie denn noch alles vorhatten, in ihrem Leben. Beruflich, aber auch privat. Einiges kann man ja hinausschieben, aber eben nicht alles und alles wird zu einem späteren Zeitpunkt anders erlebt werden – und vielleicht ist es dann sogar einmal „zu spät für Berlin“ und das könnte sehr, sehr schade sein. Insofern ist ja die Frage viel entscheidender, was wird denn noch aus mir? Letztlich haben wir die existenzialistische Freiheit uns zu entwerfen, wie es Martin Heidegger ausdrückte. Und auch diese Lebensentwürfe kann einer wieder verwerfen, wie die eines Hausbaus. Aber auch das Träumen gehört dazu und kann Energie und Motivation mit sich bringen – im besten Fall für das Schöne, das Sie noch vorhaben mit Ihrem eigenen Leben, für das Sie die volle Verantwortung tragen. Und manchmal lohnt sich eben auch der Blick zurück, was wurde aus mir und wo waren es bewusste Entscheidungen, wo ließen Sie es geschehen oder wo hat das Schicksal glücklich oder unglücklich Regie geführt. Es bleibt aber immer noch dabei, dass es unzählig viele Möglichkeiten für den Rest des Lebens gibt. Ergreifen müssen wir sie allerdings selbst. Es ist nie zu spät, solange unser Geist noch wach ist.
Und heute, als älterer Mensch mit mehr als einem halben Jahrhundert auf der Zählleiste, stellt sich die Frage neu: Wie will ich einmal als alter Mensch gelebt haben? Zugegebenermaßen hat mich das Alter bisher nicht sehr gereizt. Ehrfurcht und Respekt vor dem alten Menschen hatte ich schon, aber auch die Überheblichkeit, dass sein oder ihr Leben „gelaufen“ ist. Wie töricht und ungerecht, hat doch jeder Tag im Leben die Chance in sich ein guter, ein schöner Tag zu werden, egal wie alt einer ist. Und Ari Rath lehrte mich in seinem 88. Lebensjahr „Ari heißt Löwe“ und der ist ein Löwe im Geiste, egal wie alt er ist. Mit seinem hellwachen Geist und seiner natürlichen Autorität durch schonungsloses Aussprechen seiner profunden Meinung zeigte er mir den Wert eines alten und erfahrenen Geistes. Ja, so möchte ich einmal alt gewesen sein. Ein begnadeter Erzähler, offen und angeregt diskutierend und – mit einem verschmitzten Lächeln zwischen den Zähnen unter den hellwachen Augen, die Vieles gesehen haben – und einem Geist, dem es lohnte zuzuhören. Denn einmal wird aus dem „Was wurde aus…“ ein „Das, ja das, war er.“ Wenn es dann auch noch heißt, „schön, dass es ihn gab“, dann war das Leben reich und voll geworden. Möge es glücken. Auch Ihnen. Und außerdem, wie war das denn bei Ihnen? Und was ist aus Ihnen geworden? Was wird denn noch aus Ihnen? Wünsche viel Glück und die nötige Portion Mut.
Illustration Bianca Tschaikner