Wem gehört die Natur?
Im „Global Seed Vault“ in Norwegen, der größten Sammlung aller verfügbaren Samen von Fruchtpflanzen der Erde, ist Platz für 4,5 Millionen Arten verschiedener Kulturpflanzen. Im Inneren eines Bergs werden sie bei minus 18 Grad gelagert.
Foto Riccardo Gangale
Der Klimawandel macht Saatgut, das sich an rasch verändernde klimatische Bedingungen anpassen kann, zu einer Notwendigkeit. Doch der gesetzliche Rahmen engt die Agrobiodiversität ein, während große Saatgutkonzerne immer mehr Patente auf „klimafitte“ Eigenschaften von Pflanzen anmelden. Von Sarah Kleiner
Über 150 Jahre ist es her, dass ein mährisch-österreichischer Priester ein Werk veröffentlichte, das die Grundlage der modernen Genetik bilden sollte. Gregor Mendel, vielen vielleicht noch bekannt aus dem Biologieunterricht, beschäftigte sich in seiner Zeit am Augstinerkloster St. Thomas intensiv mit Erbsen. Er bestäubte sie händisch, kreuzte sie, beobachtete ihre Nachkommen und deren Eigenschaften und hielt die Ergebnisse seiner Forschung 1866 in der Arbeit „Versuche über Pflanzen-Hybriden” fest.
Was heute hinter den Kulissen der medial breit geführten Diskussionen um Biogemüse und nachhaltige Landwirtschaft geschieht, hätte den naturbegeisterten Mendel wahrscheinlich Stutzen gemacht. Multinationale Saatgutkonzerne melden seit einigen Jahren immer mehr Patente auf Genvarianten an, also auf Eigenschaften von Pflanzen, die in konventioneller Züchtung oder durch zufällige Mutationen entstanden. Organisationen wie ARCHE NOAH sehen die Biodiversität und Freiheit der Saatgutzucht bedroht und versuchen, Aufmerksamkeit für Fragen zu generieren, die uns in Zukunft noch mehr beschäftigen werden.
Neue Paradigmen
Seit Mendel damals im Klostergarten seine Erbsenblüten kreuzte, ist freilich viel passiert. Die wesentlichen Rechtsgrundlagen, die heute bestimmen, was für Samen auf den Feldern Europas landen, sind das europäische Saatgutrecht, das Gentechnikrecht und immer mehr auch das europäische Patentrecht. Das Saatgutrecht stammt aus den 1960er Jahren. In der Nachkriegszeit zielte die Idee dahinter auf eine sichere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ab, auf Produktivitätssteigerung und industrielle Lebensmittelerzeugung. Rechtlich bedeutet das, dass auch heute noch hauptsächlich Saatgut am Markt zugelassen wird, das uniform und stabil ist. Wenn alle Tomaten eines Felds ungefähr gleich groß, gleichfarbig und von einer annähernd gleichen Qualität sind, dann eignen sie sich am besten für die industrielle Verarbeitung.
Erreicht werden konnte diese Uniformität unter anderem mit Hybridsamen, bei denen zwei reinerbige Elternlinien derselben Art gekreuzt wurden. Wie auch Mendel in seiner „Uniformitätsregel“ festhielt, bringen Hybridsamen einheitliche Früchte, sie können meistens aber nur einjährig genutzt, müssen immer wieder neu gekauft werden. Gewisse Eigenschaften werden also in der Zucht optimiert, auch die Menge des Ertrags wird bei der Zulassung von Saatgut forciert. Ein Züchter muss heute einen Katalog von etwa 70 Kriterien erfüllen, bevor seine Samen in den europäischen Handel gelangen können. Das ist kostspielig und dauert Jahre.
„Dieses System hat Vorteile für die industrielle Landwirtschaft, weil es standardisierte Waren liefert“, sagt Katherine Dolan vom Verein ARCHE NOAH, „aber damals wurde einerseits nicht bedacht, welche Auswirkungen das auf die Biodiversität hat und auf Landwirtinnen, die außerhalb der industriellen Landwirtschaft arbeiten.” Schätzungen gehen davon aus, dass bereits 75 Prozent der Artenvielfalt in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden sind, ARCHE NOAH will dem entgegentreten. Im Samenarchiv des Vereins lagert das Vermehrungsmaterial für etwa 5.500 Kulturpflanzen, großteils samenfestes Saatgut. „Die andere Sache ist, dass man die genetische Bandbreite von Pflanzen reduzieren muss, um Uniformität zu erhalten. Das heißt, der Genpool, der es ihnen ermöglichen würde, sich immer besser an äußere Bedingungen anzupassen, wird weggezüchtet.” Heute sei deshalb in der Züchtung ein anderes Mindset nötig. Der Klimawandel gäbe Anlass, diverses, anpassungsfähiges Saatgut zu züchten, das sich von Generation zu Generation besser an veränderte klimatische Faktoren anpasst, das Hitze- oder Trockenheitsresistenzen entwickelt.
Im heurigen Dezember wird die EU-Kommission einen Vorschlag für eine Überarbeitung des Saatgutrechts vorlegen. ARCHE NOAH sei zuversichtlich, dass die Reform auch für eine positive Veränderung genutzt werden kann. „Es gibt die Farm-to-Fork-Strategie, die Biodiversitätsstrategie – die Bedeutung von Vielfalt und Agrobiodiversität wird immer mehr anerkannt“, sagt Katherine Dolan. „Wir wollen sicherstellen, dass es zu keiner Verschlechterung kommt, aber wir sehen auch Chancen, die Diskriminierung der Vielfalt zu minimieren und den Saatgutmarkt zu öffnen.”
Spiel der Kräfte
„Organisationen wie Arche Noah oder Specie Rara in der Schweiz, aber auch private Firmen sorgen seit langem dafür, dass die Vielfalt erhalten bleibt und Neues entsteht”, sagt Dominik Flammer. Er beschäftigt sich seit dreißig Jahren forschend mit der Artenvielfalt im Alpenraum und ist Inhaber der Zürcher Agentur Public History Food. „Auch Samenbanken, die alle Staaten auf internationalem Niveau miteinander vernetzt haben, oder Bewegungen wie Slow Food und die alpine Küche führen dazu, dass man sich verstärkt mit Vielfalt auseinandersetzt.“ Flammer schätzt den Artenverlust nicht so gravierend ein, wie von manchen NGOs behauptet und betont die Rolle der Saatgutkonzerne für die Ernährungssicherheit. „Wo ich die Industrie aber durchaus kritisiere, ist dort, wo sie versucht, mit ökonomischen Monopolisierungen die Margen zu erhöhen und Bauern von sich abhängig zu machen.“
Global betrachtet werden heute mehr als 60 Prozent des Saatgutmarkts von vier Konzernen dominiert. Die drei größten, Bayer/Monsanto, Corteva und Syngenta/Chem China, sind dabei auch die größten Anbieter von Pestiziden. Auffallend ist, dass verhältnismäßig viel konventionelles Saatgut auf den Markt kommt, das auf die Anwendung von Pestiziden im Anbau sozusagen genetisch vorbereitet ist. Bio-Saatgut ist bei manchen Gemüse- und Obstsorten Mangelware, weshalb das EU-Recht auch vorsieht, dass Bio-Landwirte im Fall, dass kein biologisches Saatgut verfügbar ist, auf konventionelles zurückgreifen dürfen. Die biologische Landwirtschaft hat im Saatgutbereich drängende Bedürfnisse, aber die biologische Pflanzenzüchtung wird im Vergleich zur Gentechnik nur wenig gefördert.
Patente auf Eigenschaften
Was Organisationen wie ARCHE NOAH momentan noch größere Sorgen bereitet, sind die zunehmenden Patentanmeldungen auf Pflanzen und ihre – auch auf nicht-gentechnischem Weg entstandenen – Eigenschaften. Im Juni 2017 entschied der Verwaltungsrat des Europäischen Patentamts (EPA) in München zwar, dass auf Pflanzen und Tiere aus konventioneller Züchtung keine Patente erteilt werden dürfen, doch es gibt rechtliche Schlupflöcher, die dazu führen, dass auch Pflanzen, die auf Basis von zufälligen genetischen Mutationen entwickelt wurden, als patentierbare Erfindungen gewertet werden. „Wenn ein Konzern viel Geld in die gentechnische Züchtung einer trockenheitsresistenten Weizenart investiert, und diese Forschung durch Patente monetarisieren will, habe ich ein gewisses Verständnis dafür“, sagt der Experte für Artenvielfalt Dominik Flammer. „Das ist aber etwas anderes, als wenn man bestehende Gene, die man entdeckt, patentieren lässt. Ich persönlich bin gegen diese Patentierung der Natur.“
Ein Beispiel dafür wäre ein Patent auf Tomatenpflanzen mit einer verbesserten Toleranz gegenüber Trockenheit, das im vergangenen April für das Unternehmen BASF erteilt wurde. Laufende Patentanträge von Syngenta/Chem China beanspruchen die Nutzung von tausenden Genvarianten, unter anderem von Soja und Mais, die die Widerstandsfähigkeit der Pflanzen gegenüber Krankheiten stärken könnten. Etwa 300 solcher Patente wurden in den vergangenen Jahren erteilt. Bisher sind nur wenige davon auch in Österreich gültig, was sich aber nächstes Jahr ändern könnte. Ein Einheitspatentsystem könnte dann in Kraft treten, womit alle in München erteilten Patente auch für Züchter und Saatgutvermehrer in Österreich tragend werden.Vor allem für die Entwicklung von neuem Saatgut – und damit die Agrobiodiversität – birgt das ein Risiko.
Will ein Saatgutzüchter oder -vermehrer in Zukunft dann eine Tomatensorte entwickeln, die trockenheitsresistent ist, so müsste er recherchieren, welche Patente es auf diese Eigenschaft gibt. Auf die Gefahr hin, die patentierte Genvariante in seiner Züchtung zu „nutzen“, müsste er teure Lizenzen erwerben. Bisher konnte man über den Sortenschutz im Saatgutrecht den Verkauf von eigens entwickelten Sorten unterbinden oder unter Lizenz stellen. Der sogenannte Züchtervorbehalt darin besagt aber, dass auch geschützte Sorten genutzt werden können, um neue zu entwickeln. Diese Freiheit würde mit den Patenten aufgehoben. „Wenn nur die großen Unternehmen in der Zukunft Saatgut verkaufen können, weil sie die Merkmale unter Schutz gestellt haben, wäre auch eine Öffnung des Saatgutrechts unwirksam“, sagt Katherine Dolan.
Die Marktmacht der Konzerne könnte dadurch weiter ausgebaut werden, vor allem für kleine und mittelständische Zuchtbetriebe und Saatgutvermehrer entstehen Abhängigkeiten und Kosten. Für das internationale Bündnis „No Patents on Seeds!“, dem auch ARCHE NOAH angehört, ist deshalb jetzt die Zeit, die Weichen für einen Saatguthandel zu stellen, der flexibel und schnell auf die Herausforderungen der Klimakrise reagieren kann – und bei der Entwicklung „klimafitter“ Eigenschaften nicht durch Patente blockiert wird. In einer Ministerkonferenz der 38 Mitgliedsstaaten des Europäischen Patentamts soll dafür das Verbot von Patenten auf herkömmliche Züchtung durchgesetzt werden. „Die Patente sind eine Flutwelle, die sich jetzt formt und in zehn, 20 Jahren auf uns zukommen könnte“, sagt Katherine Dolan.
Gregor Mendels Forschungsergebnisse wurden zu seinen Lebzeiten übrigens noch belächelt, sie stießen auf Unverständnis und Ablehnung. Erst acht Jahre nach seinem Tod, im Jahr 1900, konnten drei Pflanzengenetiker bestätigen, dass seine Beobachtungen über Genfolgen und Hybride tatsächlich wahr waren. Überliefert ist Mendels Aussage „Meine Zeit wird noch kommen“, mit der er wohl genauso richtig lag.