Wenn der Amazonas kleiner wird

Das indigene Dorf La Libertad lebt im Rhythmus mit und in Abhängigkeit vom größten Regenwald der Welt. Rodungen, Kokainhandel und Wetterextreme verändern Region und Leben in der kolumbianischen Wildnis.
Text und Fotos von Tara Giahi

Gustavo Candena fährt mit einem kleinen Boot hinaus auf einen Seitenarm des Amazonas. Der Himmel ist bewölkt, es ist schwül, ein paar Tropfen fallen ins braune Wasser. Bei einem Baum hält er das Boot an und wickelt von einer Kordel die Angelschnur ab. Am Ende befestigt er einen Haken mit einem Stück Fisch. Er holt weit aus, wirft die Schnur, wartet. Wartet lange. Immer häufiger kauft er inzwischen Fische aus einem weiter entfernten Teich. Die Tiere im Fluss sind rar geworden – weniger Niederschlag bedeutet weniger Fische.
Gustavo Candena gehört dem indigenen Stamm der Yagua an. Er wohnt in La Libertad, einem 400-Seelen-Dorf am Ufer des Amazonas, umgeben von Wildnis. Es gibt keinen Asphalt, keine Autos. Strom ist nur von 15 bis 21 Uhr verfügbar, Kleidung sowie Geschirr werden im Fluss gewaschen. Der Wandel von Tradition und Klima ist hier besonders spürbar.

„Früher haben die Seitenarme des Amazonas fast bis zu unseren Häusern gereicht“, erzählt Gustavo. Er steht barfuß auf einer Wiese, wo ein Fußballtor aus drei Holzbalken aufgestellt ist. „Seit Jahren war hier kein Wasser mehr.“ Bei den älteren Bäumen lässt sich an den dunklen Färbungen am Stamm noch erkennen, wie hoch das Wasser einmal gereicht hat. Rund ein Drittel von Kolumbien, eine Fläche vergleichbar mit Deutschland, ist vom Amazonas-Regenwald bedeckt. Die Region wird von zwei Jahreszeiten bestimmt, der Regen- und der Trockenzeit. In der Regenzeit gibt es genug Wasser zum Trinken, Baden und Waschen. Die meisten Früchte wie Mangos und Maracujas reifen, jedoch sind auch Krankheiten wie Malaria und Denguefieber verbreiteter – die Moskitos vermehren sich reichlich in den Tümpeln. In der Trockenzeit zieht sich der Amazonas zurück: Der tägliche Weg zum Wasser wird länger und die Fische im Fluss weniger. Das Sammeln von Feuerholz ist einfacher, das Leben teurer: „Große Schiffe können nicht mehr auf dem Fluss fahren“, erzählt Gustavo. „Die Preise von Reis und Benzin steigen.“

Durch den Klimawandel wird die Trockenzeit länger und heißer, in der Regenzeit werden Überschwemmungen häufiger. Zugleich ist das Wetter unbeständiger. La Libertad liegt im Vergleich günstig, das nordwestliche Amazonas-Becken leidet weniger unter dem Klimawandel als der Süden. Große Waldbrände und Massen-Fischsterben wie in Brasilien und Bolivien gibt es hier (noch) nicht.
Zu Gustavos Heim gelangt man über ein paar wackelige Holzplanken. Gerüstet für den Regen stehen die meisten Häuser im Dorf auf Stelzen. In der offenen Küche kocht Gustavos Frau Rosada den gefangenen Fisch zusammen mit Yuca über dem Feuer. Kochbananen brutzeln im Öl. „Uns fehlt das nötige Kleingeld fürs Gas“, erzählt sie, „und für eine große Familie kocht es sich besser am Feuer.“ Rosada und Gustavo haben acht Kinder. Der Älteste ist 37, der Jüngste elf. Die meisten Familien in La Libertad sind groß. Oft teilen sie sich ein bis zwei Räume mit einer Feuerstelle im Freien. Anstelle von Ziegeln, Beton und Fensterglas sind die Gebäude aus Tropenholz, Wellblech und Plastikplanen. Geschlafen wird am Boden oder in Hängematten unter Moskitonetzen.

Zum Essen gibt es eine „limonada de panela“, ein typisches Getränk der Region aus Zuckerrohr und Limetten. Die Zutaten stammen aus eigenem Anbau. Jede Familie in La Libertad bewirtschaftet „cultivas“ – Felder im Dschungel –, wo sie etwa Yuca, Kochbananen und Papayas anbauen. Reis, Öl und Süßigkeiten verkaufen ein paar Familien im Dorf, alles Übrige muss eine Stunde stromabwärts in der Stadt Leticia beim Dreiländereck, wo Kolumbien an Peru und Brasilien grenzt, gekauft werden. Eine Fahrt zur „Hauptstadt“ des kolumbianischen Amazonas kostet knapp zehn Euro – für die Einheimischen eine hohe Summe. Arbeit zu finden ist schwierig, das Bildungsniveau niedrig: Viele können nicht lesen und schreiben, Englisch spricht niemand. In der Schule lernen die Kinder Spanisch, die Älteren sprechen noch Yagua. Früher verdienten die meisten ihr Geld mit dem Verkauf der Ernte. Durch Intensivierung des transnationalen Handels ist das inzwischen schwieriger geworden: „Aus Peru kommen große Schiffe mit Lebensmitteln, mit den Preisen können wir nicht mithalten“, erzählt Gustavo. Er selbst verdient seit knapp 15 Jahren sein Geld mit Tourismus, damit ist er allerdings allein in der Gemeinschaft. Rund 100 Besucherinnen und Besucher kommen jedes Jahr zu ihm, wandern mit ihm ein paar Nächte durch die Wildnis oder suchen die rosafarbenen Flussdelfine. Dabei verlässt er das Haus nie ohne seinen dunklen brasilianischen Tabak, den er mit ausgerissenem, liniertem Papier dreht. „Der Rauch schützt uns vor bösen Geistern“, ist er überzeugt.

Gustavo ist einer von fünf Schamanen im Dorf. Zu ihm kommen die Menschen, wenn sie Kopfschmerzen, Verletzungen oder Fieber haben. Mithilfe des Rauchs entfernt er ihnen die „malos espíritus“ – die bösen Geister. Bei Magenbeschwerden oder Malaria hilft die gekochte Rinde des Chinchona-Baums, die auch die Grundlage für das erste westliche Malaria-Medikament bildete. Heute gewinnt die Rinde wieder an Bedeutung, weil die Malaria-Parasiten Resistenzen gegenüber den synthetisch hergestellten Mitteln entwickeln. Allerdings geht das alte medizinische Wissen durch das Aussterben indigener Sprachen verloren. Auch die Vielfalt der Heilpflanzen ist durch die Zerstörung des Regenwalds bedroht. Wissen und Pflanzen – beides auch für die westliche Pharmazie bedeutend.

Zwischen 10 und 50 Prozent der Amazonas-Wälder sind durch Klimawandel, Abholzung, Stürme, Dürre und Brände akut bedroht – mit globalen Folgen. Die Region ist als riesiger CO2-Speicher und Regulator bedeutend für das weltweite Klima. Die „fliegenden Flüsse“, sprich die Freisetzung von Feuchtigkeit, beeinflussen die Niederschlagsmengen in weiten Teilen Südamerikas und sogar Indiens. Die enormen Mengen an Treibhausgasen, die durch Waldbrände und Brandrodungen im Amazonasgebiet freigesetzt werden, beschleunigen sowie verschärfen zudem die Erderwärmung und ihre Folgen. Neben intensiver Landwirtschaft und Bergbau wird der Amazonas-Regenwald für den Anbau von Kokablättern gerodet. Kolumbien ist der Hauptexporteur der Droge. Die Produktion mithilfe von Benzin und Schwefelsäure verseucht Boden und Wasser. Trotzdem wächst die Nachfrage insbesondere in Europa. Allein in Österreich stieg der Kokainkonsum 2023 im Vergleich zum Vorjahr um knapp 20 Prozent. In La Libertad selbst spielt der Konsum von Kokain kaum eine Rolle, obwohl das Dreiländereck, die Drehscheibe für den illegalen Handel in die USA und nach Europa, nur etwa eine Stunde stromabwärts mit dem Schnellboot entfernt ist. Den Einheimischen ist bewusst, wie Anbau und Handel Land und Leben beeinflussen: „Der Kokain-Handel zerstört unser Land“, so Gustavo.

Unter dem seit 2022 amtierenden linksgerichteten Präsidenten Gustavo Petro konnte die Zerstörung des kolumbianischen Amazonas-Regenwalds deutlich reduziert werden. Im Vergleich zu 2022 ging 2023 die Rodung um mehr als ein Drittel zurück. Mit 45.000 Hektar Waldverlust, einer Fläche vergleichbar mit Wien, war der Wert so niedrig wie seit 23 Jahren nicht mehr. Dazu trugen Förderprogramme der Regierung bei, die finanzielle Anreize für Gemeinden und Landwirtschaften bieten, sowie Friedensverhandlungen mit Guerilla-Organisationen, die in Teilen des Dschungels aktiv sind. Für 2024 rechnet man allerdings wieder mit einem Anstieg der Entwaldung, aktuelle Zahlen gibt es noch nicht. Für einen effektiven Schutz des Regenwalds bräuchte es eine Ausweitung von Schutzgebieten, nachhaltige Landwirtschaft und internationalen Willen. Die Produktion von Lebensmitteln dürfte nicht mehr auf der Rodung des Amazonas-Waldes fußen.

Gustavo Candena verbringt in der Trockenzeit die Abende meistens vor seinem Haus auf einer Bank. Ein paar Kinder drängen sich um das Handy seines Schwiegersohns, bis 21 Uhr läuft das WLAN noch. Dank Spenden aus der Schweiz und den USA soll es bald den ganzen Tag über Strom geben. Gustavo freut sich darüber, macht sich aber auch Sorgen über die Veränderungen und wie diese den Alltag bestimmen werden: „Wenn meine Generation stirbt, stirbt unsere Sprache, stirbt das Wissen um die Geister des Waldes und die traditionelle Medizin.“ 


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