Wenn Städte essbar werden

„Essbare Städte“ stärken in Kuba die regionale Wirtschaft. Foto Roberto Machado Noa / Getty Images, Stadt Gärten, gestalten 2024

Wachsende Herausforderungen wie Überhitzung und die steigende Komplexität in der Stadtentwicklung in Bezug auf Wohnraum und Begrünung drängen viele urbane Orte zu naturnahen Lösungen. Sogenannte „essbare Städte“ wollen mit verschiedenen Konzepten Biodiversität schützen und soziale sowie wirtschaftliche Ziele der Nachhaltigkeit fördern – und das von Vorarlberg bis nach Kuba.
Von Nadine Pinezits

Angesichts des Klimawandels, der zunehmenden Entfremdung der Menschen von der Natur, der Überhitzung urbaner Gebiete und der wachsenden Kritik an der Nahrungsmittelindustrie gewinnen sogenannte „essbare Städte“ an Bedeutung. Sämtliche Elemente, die man von anderen urbanen Lebensmittelkonzepten wie etwa „Urban Farming“, Mietgärten, Stadtimkern oder Mundraub kennt, werden in „essbaren Städten“ in einem gemeinsamen Projekt vereint. Sie können sowohl kommerzielle als auch nicht-kommerzielle Nutzung, öffentliche und private Flächen, kollektive und individuelle Aktivitäten, Freizeit- und Berufsgärtnerei, städtische und ländliche Bereiche, Nutzpflanzen und ästhetische Gestaltung sowie Landwirtschaft und Biodiversität umfassen. Die einzelnen Konzepte sind dabei ganz unterschiedlich. Düsseldorf hat Hochbeete, die allen zum Ernten bereitstehen, in Dornbirn gibt es einen öffentlichen Pilotgarten, für den man Patenschaften übernehmen kann, und am anderen Ende der Welt in Brasilien füllt man hängende Gärten aus Plastikflaschen mit Salat, Kräutern und Tomaten. Was alle „essbaren Städte“ gemeinsam haben: Sie nutzen den urbanen Raum zum Anbau von Lebensmitteln, die für die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner kostenlos zugänglich sind.

Todmorden. Foto Arthur Edwards

Beete statt Beton
Die erste „essbare Stadt“ entstand 2008 in Todmorden im Vereinigten Königreich. Die beiden Gründerinnen der Initiative, Pam Warhurst und Mary Clear, haben damals das Konzept „edible city“ entwickelt. Andere Länder taten es dem britischen Vorreiterprojekt schnell gleich. In Deutschland existieren mittlerweile rund 100 „essbare Städte“. Die Ansätze in den einzelnen Städten reichen dabei von Pflanzkübeln bis zur Landschaftsgestaltung und umfassen den Anbau von Gemüse, Obst, Kräutern und essbaren Blüten in Beeten, auf Balkonen, Wänden und Dachflächen, in Parks, Fußgängerzonen, öffentlichen Grünanlagen, Spielplätzen, Gemeinschafts- und Schulgärten. Auch Pflanzentauschprogramme, Wissensveranstaltungen und „Food-Coops“ gehören oftmals zum Angebot. Deutschlandweit gilt besonders die Stadt Andernach in Rheinland-Pfalz als maßgeblich. „Regelmäßig erreichen uns Anfragen von anderen Städten, die unser Konzept umsetzen wollen. Einige Touristinnen und Touristen entdecken Andernach sogar erst durch die ‚essbare Stadt‘“, heißt es seitens der Stadt. In Andernach verfolgt man einen Top-down-Ansatz. Das heißt, die Stadt übernimmt Planung und Pflege und entlastet so die Bürgerinnen und Bürger von Verpflichtungen. Stattdessen können sie jederzeit pflücken und ernten. In vielen anderen Städten sind die Einwohnerinnen und Einwohner jedoch aktiv in die Betreuung der Projekte eingebunden. Das Düsseldorfer Konzept ermöglicht es Bürgerinnen und Bürgern beispielsweise, kostenlos Bio-Hochbeete sowie alte Apfel- und Birnbäume zu erhalten, die öffentlich zugänglich aufgestellt und gepflanzt werden müssen, damit alle davon profitieren können. Zudem haben 100 Schulen und Einrichtungen Fördermittel für den ökologischen Anbau erhalten, während geeignete Flächen für Gemeinschaftsgärten bereitgestellt und Zuschüsse für die Erstausstattung gewährt wurden. Die Mitarbeit an diesen Projekten schafft einen Zugang zu gesunder Ernährung für alle, ermöglicht einen Austausch und verbindet Stadt und Umland, wodurch auch ein hoher pädagogischer Nutzen entsteht. Zudem lernen all jene, die mitmachen, saisonale und regionale Produkte kennen, schätzen das öffentliche Grün und erfahren, was es bedeutet, gleichzeitig zu produzieren und zu konsumieren.

Havanna, Kuba. Foto Tess McNamara, Stadt Gärten, gestalten 2024

Bio-Ananas in Kuba, Tomaten aus Plastikflaschen in Brasilien
Ökonomisch gesehen unterstützen „essbare Städte“ die Armuts- und Hungerbekämpfung, verbessern die Ernährungssicherheit, schaffen Arbeitsplätze und stärken die regionale Wirtschaft, wie auch das Beispiel Kuba zeigt. Die schwere Versorgungskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sorgte in den 1990er Jahren dafür, dass Kuba aus diesem Mangel heraus urbane Landwirtschaft für sich nutzte. Unterstützt durch die Politik, die staatliche Brachflächen an Kooperativen verpachtete, wurden auf Dachgärten, in Gemeinschaftsbeeten oder auf den Arealen staatlicher Unternehmen Nahrungsmittel angebaut. Heute wachsen in der Hauptstadt circa 70 Prozent des Bedarfs an Obst und Gemüse von Havanna – auf etwa einer Million Hausgärten und Stadtfarmen, die insgesamt mehr als 50.000 Hektar umfassen. Das meiste davon stammt übrigens aus ökologischem Anbau. Auch in Brasilien nutzt man die verschiedenen Flächen zwischen dem vielen Beton fürs Gärtnern. Ein Projekt in der Stadt Recife im Nordosten des Landes bietet beispielsweise von Armut betroffenen Kindern und Jugendlichen im Rahmen seiner Sozialarbeit unterschiedliche Workshops an, in denen sie in den Bereichen städtische Landwirtschaft und Öko-Anbau neue Fähigkeiten erlernen. Die Kinder legen auf Dächern Beete an oder befestigen mit fruchtbarem Boden gefüllte Plastikflaschen an Hausfassaden oder Gartenzäunen. Hier wachsen dann Salat, Kräuter und Tomaten. Dank dieser Hänge- und Dachgärten können mittlerweile rund 400 Familien von den Kindern des Projekts mit frischen Lebensmitteln versorgt werden.

Kann jede Stadt essbar werden?
Die Beweggründe für „essbare Städte“ sind weltweit unterschiedlich, dennoch haben sie eines gemeinsam: Sie machen den städtischen Raum zum Anbau von Lebensmitteln nutzbar, bauen eine lokale Versorgung auf und zeigen damit, wie multifunktionell öffentliche Flächen sein können. Aber kann am Ende aus jeder Stadt eine essbare werden? „Grundsätzlich ja. Notwendig sind geeignete Flächen, auf denen gegärtnert werden kann, eine Koordination, die entweder bei der Stadt liegt oder mit ihr zusammenarbeitet, sowie Menschen, die mitmachen“, weiß eine Sprecherin der „Essbaren Stadt Düsseldorf“. Die Erfolge, die bestehende „essbare Städte“ bereits erzielt haben, dürften auf jeden Fall auch weitere urbane Gemeinden dazu animieren, auf diese Weise in eine lebenswerte, umweltbewusste und sozial gerechte Zukunft zu investieren.


Weitere Informationen:
incredible-edible-todmorden.co.uk
duesseldorf.de/nachhaltigkeit/aktuelles
essbare-stadt-duesseldorf
andernach.de/stadt/essbare-stadt
verein-guenter.at/essbare-stadt/


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