Werft endlich die Teller aus dem Fenster!

Foto: Eine Aktion, die sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Tier befasst. Dinner with cows, Kultivator, 2005

Eine Aufforderung.
Von Wolfgang Fetz

2019 präsentierte das Londoner Victoria and Albert Museum eine Ausstellung mit dem aufschlussreichen Titel „Food: Bigger than the Plate“. Keine Frage, der Komplex „Nahrung“ umfasst wesentlich mehr als das, was gerade auf dem Teller liegt. Das mag sich nach einer Trivialität anhören, zählt jedoch keineswegs zum Grundbestand unseres Zugangs zur Nahrung. In der klassischen, zugespitzten Tellerfixiertheit („plate“) manifestiert sich beispielhaft eine Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass „Essen“ – von der Produktion im weitesten Sinne bis hin zu spezifischen kulturellen und politischen Implikationen – in ein weitläufiges und höchst komplexes Bezugssystem eingebettet ist. Dass wir diesen Kontext im Akt der Nahrungszuführung zwangsläufig mitkonsumieren, mag aufs Erste paradox erscheinen.
Die Psychoanalytikerin Gisèle Harrus-Révidi hat den Teller als „abgegrenztes orales Revier“ verstanden. Ich würde sagen, der Teller hat, abgesehen von seiner unmittelbarsten Funktionalität, einen dem Bilderrahmen vergleichbaren Zweck. Er grenzt nach außen ab, die scheinbar autonome Ordnung des Innen, des angerichteten Essens tritt entsprechend deutlicher hervor. Diese Grenzziehung lässt sich auch so ausdrücken: Wehe, du greifst mir in meinen Teller! Oder, sprichwörtlich: Jemand vermag nicht über seinen Tellerrand zu sehen. Im Grunde geht beides Hand in Hand.
Wenn ich Sie nun – zugegeben in polemischer Absicht – dazu auffordere, ihre Teller aus dem Fenster zu werfen (bitte auf vorübergehende Passanten achten!), steckt folgende Überlegung dahinter: Unsere Alltagspraxis ist eingebettet in ein Netzwerk der Selbstverständlichkeiten. Entlastende Routinen, die in der Regel nicht weiter reflektiert werden. Alles andere wäre aufwandstechnisch betrachtet unsinnig und
fatal.
Sie öffnen den Kühlschrank, um sich das fürs Abendessen vorgesehene Stück Seeteufel herauszunehmen. Dabei spielt der weitere Verweisungszusammenhang, in dem dieser beiläufige Akt steht, keine Rolle: Herkunft und Transport des Fischs, Lagertechnik, Stromversorgung des Geräts, Brat-
technik, Herdplatte und so weiter. Und wenn ich den Tisch aufdecke, mache ich mir keine Gedanken über die Genealogie der Tischsitten oder die Frage, ob es denn Alternativen zur Verwendung von Tellern gäbe. Tausend unhinterfragte Dinge. Ist der Kühlschrank jedoch wider Erwarten plötzlich defekt, liegen die Teller in Scherben auf der Straße, tritt der Verweisungszusammenhang zwangsläufig in den Vordergrund, wird auf ärgerliche Weise explizit. Jeder kennt das aus eigener Erfahrung.

Luftverschmutzung in geschlagenem Eiweiß. Center of Genomic Gastronomy, 2011


Freilich können Sie derartige Störungen und Defizite auch bewusst „inszenieren“. In Form von Gedankenspielen oder praktisch angelegten Experimenten. Verzichten Sie für ein, zwei Wochen auf jede Tellerwirtschaft, kappen Sie die Stromzufuhr des Kühlschranks, veranstalten Sie ein Dinner mit Kühen, überkleben Sie die grässlichen Schöner-Leben-Abbildungen in ihren Kochbüchern mit Schreibpapier und schaffen damit Platz für Eigenes. Was immer: Sie werden sich und ihren Kochgenossen unerwartete Erfahrungen und Einsichten verschaffen.
Die von Catherine Flood und May Rosenthal Sloan kuratierte „Food“-Ausstellung war einmal mehr ein Anlauf, dieses enge Korsett des „Tellers“ aufzubrechen. In einem stimulierenden Parcours entlang den Stationen „Composting, Farming, Trading, Cooking, Eating“ wurden Projekte vorgestellt, die der blinden „Auf-dem-Teller-Routine“ alternative Entwürfe entgegensetzten: An die Stelle des oralen Reviers tritt häufig das Environment. An die Stelle einer tellerzentrierten Kochkunst tritt ein performatives Moment, eine Investigation ganz eigener Art, politisches Statement, ökologische Neuorientierung.
Nebenbei: Wer sich hier auf eine verspätete Ausstellungsrezension eingestellt hat, den muss ich enttäuschen. Ich möchte allerdings dringend auf den auch textlich sehr gut ausgestatteten Katalog zur Ausstellung verweisen. Mir selbst ging es um den Titel derselben als Anlass für eine kleine Überlegung.
Der Essens-Philosoph Harald Lemke hat in seiner 2007 erschienenen „Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie“ notiert: „Wer über das Essen nachdenkt und über den Tellerrand hinausblickt, stößt sofort auf vielerlei Weltbezüge, die mit diesem Tun untrennbar verbunden sind.“ Wir „essen mit jedem Bissen auch das Lebensmittelrecht, die Produktionsprozesse der Nahrungsmittelindustrie, die Werbung“, die Liste gerät lang. Der Mensch entpuppt sich als Allesfresser im wahrsten Sinn des Wortes. Insofern erscheint es nicht abwegig, wenn wir in diesem Zusammenhang von „Essistenz“ sprechen (© Lemke, in Ableitung von „Ess-existenz“).
„Essistenz“, das passt wunderbar zu „Essen als Weltaneignung“, so der Titel eines brillanten Essays von Bazon Brock, der bereits 1971 publiziert wurde. Gleich zu Beginn des Texts greift der Verfasser ins Volle: „Die primäre Form der Weltaneignung ist die Aufnahme von Nahrung durch den Mund. Der Mund ist ein Weltorgan.“ Und weiter: „In der Unterscheidung zwischen angeeigneter Umwelt und aneignendem Organismus bilden sich früheste Beziehungsformen von weltverschlingendem Subjekt und Welt aus.“
Wenn wir – jenseits unseres oralen Reviers namens Teller – Nahrung als Beziehung begreifen wollen, stellt sich zugleich die Frage nach der Definitions- und Verfügungsmacht in diesem Dickicht der Verweisungen. Wer bestimmt darüber, was und wie ich esse? Wer ist am Ende das Subjekt, wer das Objekt der Aneignung? Damit sind wir beim schlichten Faktum: Nahrung ist in eminenter Weise Politik. Wir essen somit auch Politik – oder sie uns.
Als Ludwig Feuerbach Mitte des 19. Jahrhunderts einmal mehr seine philosophische Schusswaffe entsicherte und, peng, den übel materialistischen Satz „Der Mensch ist, was er isst“ in die Welt knallte, löste er damit einen veritablen Skandal aus. (Dass dieses Aperçu heute hingegen perfekt als Werbeslogan für Body-Shape- und Fitness-Nahrung fungieren könnte, steht auf einem anderen Blatt.) Man mag die in dem „ist was er isst“ unübersehbare Reduktion des Menschen auf die Nahrungsaufnahme zu Recht in Zweifel ziehen – und dabei jenen Punkt übersehen, auf den es am Ende ankommt: Was denn und unter welchen Voraussetzungen und Umständen isst dieses Ist?


Wenn wir unseren Blick auf die durch rücksichtslos agierende Nahrungsmittelkonzerne übel reglementierte und ramponierte Essensgegenwart (mitsamt ihren katastrophalen globalen Folgen) richten, wird schnell deutlich, in welchen Händen die Verfügungsgewalt liegt. Die Blackboxes einer korrumpierten Nahrungsindustrie bombardieren die Welt mit seltsamen Dingen, die uns mit großem Werbeaufwand und in euphemistischer Entstellung unter dem Ehrentitel „Lebensmittel“ angedreht werden: Wir werden gegessen.
Umso wichtiger also die Bezugsfelder über den Tellerrand hinaus. In den 1960er Jahren war viel von „Expanded Art“ die Rede. Plötzlich war alles in der Kunst irgendwie „expanded“ – weshalb also nicht eine erweiterte Esskunst, eine kritische Esskunst – schlicht bigger than the plate? 

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