Wie viel ist genug?

Energie- und Umweltexpertin Anna Knorr bildet junge Menschen für die Jobs der Zukunft aus. Mit viel Verve leitet sie den Masterstudiengang „Nachhaltige Energiesysteme“ an der FHV – Vorarlberg University of Applied Sciences und stellt dabei auch die Suffizienzfrage. Porträt einer Weltenbürgerin in Dornbirn.
Text Simone Fürnschuß-Hofer, Fotos Darko Todorovic

Im US-Bundesstaat Delaware geboren, Mutter Grazerin, Vater Waldviertler, blickt Anna Knorr auf eine Kindheit zurück, die man getrost als außergewöhnlich beschreiben kann. Durch unterschiedliche Jobs und Projekte der wissenschaftlich tätigen Eltern waren Anna und ihre beiden Schwestern von Kindesbeinen an in vielen Ländern dieser Welt zu Hause. Vorwiegend zwischen Europa und den USA pendelnd, wuchsen die Mädchen bilingual auf und wurden stets an internationalen Schulen unterrichtet. Auch im Erwachsenenalter behielt Anna Knorr dieses Ungebundensein lange Zeit bei. Sie studierte International Business Administration in Rotterdam und St. Gallen sowie International Management in Paris und Rotterdam. Ein Google-Jobangebot schoss sie in den Wind und ließ sich stattdessen für Shell in Deutschland und später in Norwegen verpflichten, in Innsbruck setzte sie anschließend einen Master in Umweltmanagement drauf und landete schließlich in Vorarlberg. Bis Mitte 30 war die heutige Energieexpertin mit österreichischer und amerikanischer Staatsbürgerschaft jedenfalls nie länger als drei Jahre an einem Ort. Und wäre nicht die Pandemie gekommen, wer weiß, ob sie nicht schon längst wieder ihre Flügel in Richtung Übersee aufgespannt hätte. So jedoch haben sie die Umstände zunächst an ein Homeoffice gebunden, das ihr inzwischen zur lieb gewonnenen Homebase geworden ist: Das alte Dornbirner Haus der mittlerweile verstorbenen Großeltern, das diese nach ihrem Zuzug in den 1960er Jahren erworben hatten. Und das Anna und ihren Schwestern, die ebenfalls über ihre Kindheit hinaus auf der ganzen Welt unterwegs waren und momentan in Berlin ihre Zelte aufgeschlagen haben, zeitlebens eine Konstante in Form jährlicher Familientreffen rund um die Weihnachtsfeiertage bot. Zander, Vanillekipferl und das obligatorische Dolly-Parton-Weihnachtsalbum – the same procedure as every year, die Ausnahme im Leben der Anna Knorr.

Jobvolltreffer
Dass die 39-jährige Wahl-Vorarlbergerin vorerst im „Ländle“ bleiben möchte, hat auch damit zu tun, dass sie in Dornbirn ihren, Zitat, „Traumjob“ gefunden hat. Seit 2021 leitet sie den Masterstudiengang „Nachhaltige Energiesysteme“ an der FHV. Die Verknüpfung von Umwelt und Technik bündelt nicht nur ihre fachlichen Kompetenzen, sie eröffnet ihr als naturverbundenem Menschen zudem ein berufliches Spielfeld mit hohem Sinnfaktor: „Wir schauen uns in diesem Studiengang erneuerbare Technologien und das Energiesystem als Ganzes an. Wie man es effizienter gestalten kann einerseits und wie man den Gedanken der Energiesuffizienz mit hineinbringen kann andererseits. Denn es bringt nichts, effizienter zu werden, nur um ständig mehr zu brauchen“, sagt Anna Knorr und setzt nach: „Das ist mir ganz wichtig.“ Mit zu den spannendsten Aufgaben zähle für sie, den Überblick darüber zu behalten, wie sich Gesellschaft und Welt weiterentwickeln: „Speziell auf der regionalen Ebene, denn genau hier kann man sich gut einbringen und einen Beitrag zur Energiewende beisteuern.“ Es gelte, laufend die Studienpläne mit dem technischen Fortschritt abzugleichen und vorausschauend die richtigen Impulse zu setzen, „damit wir hier vermitteln, was die Industrie auch wirklich braucht.“

Da sie nie „Elfenbeinturm-Wissenschaftlerin“ werden wollte, sondern immer schon in Anwendung und Nutzen dachte, kommt der Studiengangsleiterin die Praxisorientierung einer Fachhochschule sehr entgegen: „Dadurch, dass wir das Forschungszentrum haben, sind wir immer auf dem aktuellsten Innovationsstand – gerade in einem Bereich, der sich rasant verändert. Dieses Wissen an junge Leute weitergeben zu dürfen, ist für mich absolut bereichernd. Dieser Job bringt einfach alles zusammen.“

Frau in der Technik
Immer noch wachsen Mädchen mit dem Vorurteil auf, dass ihnen Technisches weniger liege. Das prägt und macht sich in Studiengängen mit entsprechender Ausrichtung bemerkbar. „Die Männer sind bei uns in der klaren Überzahl“, so Anna Knorr, „Mittelfristiges Ziel wäre auf jeden Fall eine 50:50-Geschlechteraufteilung.“ Auch sie selbst habe es ursprünglich gar nicht so sehr in die Technologie gezogen, wenngleich ihr das Feld durch die Arbeit des Vaters nicht fremd war. „Ich habe mich mehr für Geopolitik und internationale Entwicklung interessiert und im Grunde auch deshalb bei Shell sechs Jahre lang gearbeitet. Durch Zufall bin ich dann in der Energiebranche gelandet und so hat sich erst meine Neigung für das doch sehr komplexe Technische dieses Feldes herausgebildet.“

Interessen, so könnte man meinen, hat Anna Knorr mehr als der Tag Stunden. Sofern die Zeit es zulässt, klettert sie im Eis und macht als Bergwanderführerin Höhenmeter, sie hört gern Bob Dylan, spielt Ukulele und singt Kirtan. Räucherritualen und Schwitzhütten kann sie durchaus etwas abgewinnen und überhaupt ist sie offen für spirituelle Impulse. „Es gibt mehr, als wir sehen und greifen können“, ist die Wissenschaftlerin überzeugt. Ausgiebig befasst sie sich mit den Schriften indigener Völker und dabei vor allem mit deren Reflexionen auf die Fragen „Wie nehme ich mir, was ich benötige, aber nicht mehr?“ beziehungsweise „Wie viel ist genug?“ Erkenntnisse daraus lässt Anna Knorr in ihren eigenen Alltag einfließen: Öffis statt Auto so oft es geht, Kleidung nur noch secondhand, regionaler Lebensmittelkonsum. Gewiss, der Verzicht auf Flugreisen sei kaum möglich angesichts des rund um den Globus verstreuten Familien- und Freundeskreises. Und ohne Haus sei es deutlich einfacher gewesen, minimalistisch zu leben, gibt sie seufzend zu. Dennoch wird sie nicht müde, auf die Kraft der „kleinen Unterschiede“ zu pochen. Träumereien inklusive: „Hätte ich Geld, würde ich Grundstücke kaufen und sie zu Naturreservaten auswildern lassen.“ Und wie bewertet sie das Potenzial neuer Technologien? „Natürlich bin ich zuversichtlich, sonst müsste ich meinen Job an den Nagel hängen. Ich glaube, dass die Welt gerade sehr offen ist für Veränderung. Die Politik muss aber bereit sein, in diese Technologien zu investieren, und Anwendungssysteme sollten länder-übergreifend koordiniert werden.“

Angekommen
Anna Knorr ist eine Weltenbürgerin durch und durch. Sie spricht fünf Sprachen, drei davon fließend. Und auch wenn sie sich bewusst ist, dass eine von Wohnortwechseln geprägte Kindheit wie die ihre auch Schattenseiten hat, würde sie nicht tauschen wollen. Ihre früh entwickelte Anpassungsfähigkeit habe ihr eine hohe Flexibilität, Toleranz und einen selbstverständlichen Umgang mit Diversität eingebracht. Das mache ihr bis heute vieles leichter. Der fehlenden Zugehörigkeit und Verwurzelung stellte sie lange Zeit den Freiheitsgedanken gegenüber. Wohl deshalb habe sich das zeitweilige Gefühl der Heimatlosigkeit nie zum Problem hochgeschaukelt. Seit der Familiengründung vor gut zwei Jahren hat allerdings der Nesttrieb das Kommando übernommen: „Ich habe in den letzten Jahren verstärkt gespürt, dass ich hier meine Koffer auspacken und auch lokal einen Freundeskreis aufbauen möchte.“ Das Zuhause der Großeltern in Dornbirn ist ihres und das ihrer kleinen Familie geworden. Die Weltenbürgerin ist angekommen.
Fürs Erste …

„Chancenlabor für diese Region“
„Nachhaltige Energiesysteme“ (Abschluss als Master of Science in Engineering) ist ein berufsbegleitender, viersemestriger Studiengang an der FHV – Vorarlberg University of
Applied Sciences, der sich mit Digitalisierung und Dezentralisierung im Bereich nachhaltiger Energieversorgung beschäftigt. Neben klassischer Wissensvermittlung werden Forschung und Projektpraxis eng verknüpft. Der Schulterschluss mit Industrie und Wirtschaft schafft außerdem Netzwerke, von denen alle Seiten profitieren.


Drei Fragen an Studiengangsleiterin Anna Knorr:

Wie würdest du die Stärke des Studiengangs beschreiben?
Anna Knorr: Bei uns liegt der Fokus auf dem Systemdenken: Woher kommt die Energie, wie wird sie verbraucht, welche Speichermethoden gibt es? Es geht also nicht um eine bestimmte Technologie wie Solar, PV oder Wind, sondern vielmehr darum, den Studierenden aktuelle dezentrale, regenerative Technologien der Energiekette näherzubringen. Und dann haben wir natürlich auch sehr gute Dozentinnen und Dozenten aus dem Forschungszen-trum. Menschen, die aus der Wissenschaft kommen und auf dem aktuellen Stand sind. Und gleichzeitig jene aus der Industrie, die direkt mit den Themen arbeiten und die praktische Seite besser vermitteln können. Diese Kombination kommt bei den Studierenden sehr gut an.

Was denkst du, ist die Hauptmotivation, diesen Studiengang zu wählen?
Um einen Job mit Sinn zu machen und einen Beitrag zur Energiewende zu leisten. Und weil wir viele Industriepartner mit an Bord haben. Natürlich liegt es da auch in meinem Aufgabenbereich, zu schauen, wohin sich die Dinge entwickeln. Welche Kompetenzen in Unternehmen gefordert sind. Da geht es gerade vermehrt in Richtung Future Skills. Kompetenzen wie kritisches Denken und effektives Kommunizieren sind gefragt. Dieser Studiengang ist also nicht nur an technischen Inhalten festgemacht, sondern möchte die Studierenden fit machen für das, was sie dann in der Realität erwartet.

Dein persönliches Ziel?
Mehr Frauen für den Studiengang zu gewinnen und insgesamt als Chancenlabor für diese Region einen wichtigen Beitrag zur Energiewende zu leisten.

Weiterführende Informationen: fhv.at/energie/
Kontakt: anna.knorr@fhv.at


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