Wo bleibt die Betonbremse?

Kolumne von Sarah Kleiner

Wenn man ein bisschen aus der Stadt rausfährt, jetzt wo‘s schön wird, raus auf‘s Land, dann wird es einem von Mal zu Mal mehr bewusst: Wir bauen wirklich alles zu. Egal wohin man blickt, ob im niederösterreichischen Weinviertel oder im steirischen Gebirge: Es wird eng. Industrieanlage reiht sich an riesiges Einkaufszentrum, reiht sich an überdimensionierten Parkplatz (auf dem so gut wie kein Wagen steht), reiht sich an Einfamilienhaus mit Garten, an Einfamilienhaus mit Pool, an Einfamilienhaus mit asphaltiertem Parkplatz, an Industrieanlage, und so weiter. Gebaut wird niedrig und großflächig, dazwischen winden sich die Bundesstraßen und Autobahnen mit ausladenden Ausfahrten, deren Kurven man auch locker mit einem 70er nehmen kann. Wieso bremsen, wenn man betonieren kann.

Der Flächenverbrauch Österreichs ist ungebremst auf einem alarmierenden Niveau, mehr als elf Hektar werden pro Tag neu in Anspruch genommen. Leichter vorstellbar wird die Fläche im Vergleich mit der selben Anzahl an Fußballfeldern, die in der Regel einen Hektar groß sind. 2021 lag die Flächen-inanspruchnahme laut Umweltbundesamt bei rund 41 Quadratkilometern – der Größe Eisenstadts. Die doppelte Fläche Vorarlbergs ist bereits verbaut. Etwa die Hälfte der neu in Anspruch genommenen Flächen (zwischen 41 und 58 Prozent) wird zudem versiegelt, also mit Asphalt oder Beton luft- und wasserundurchlässig gemacht. Im Europavergleich liegt Österreich beim Bodenverbrauch im Spitzenfeld und stellt seinen Bewohnern um ein Drittel mehr Autobahnfläche pro Person zur Verfügung als Deutschland.

Dabei ist nicht nur das fortgeschrittene Zuwuchern der ländlichen Gegenden ein Problem, auch in den Städten wäre es notwendig, für mehr Grünflächen zu sorgen. Die Gründe sind offenkundig. Dort wie da dienen unbebaute Flächen dem Erhalt der Tier- und Artenvielfalt. Sie fungieren als natürliche Klimaanlage und als Wasserspeicher, die im Fall eines starken Unwetters auch große Wassermassen aufnehmen können. Das heißt, freie Flächen dienen dem Hochwasserschutz. Auf einem versiegelten Boden kann man nichts mehr anbauen, kann kein Vieh mehr grasen. Durch den Verbau von Ackerboden oder Weidefläche werden also die Möglichkeiten für die regionale Lebensmittelerzeugung geschmälert. Die logische Konsequenz ist eine stärkere Abhängigkeit von Importen.

Der österreichische Klimarat hat in seinen 93 Empfehlungen einen starken Fokus auf das Thema gelegt. Er schlug zum Beispiel vor, dass Neubauten außerhalb eines Ortskerns nicht möglich sein sollten, wenn es ungenutzte Flächen im Ortskern gibt. Und solange gewidmetes Bauland zur Verfügung stehe, sollten keine neuen Flächen bebaut werden dürfen. Zudem schlägt der Rat vor, die Raumordnung neu zu regeln und die Kompetenzen von den Gemeinden auf die Länder zu übertragen. Für die NEOS wäre auch ein Bayerisches Modell denkbar, wo eine Behörde – das Kreisamt – über Widmungen entscheidet. Dies wäre zugleich ein Hebel gegen Machtmissbrauch.

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Obwohl der festgelegte Zielwert für den täglichen Bodenverbrauch laut schwarz-grünem Regierungsprogramm bei 2,5 Hektar bis zum Jahr 2030 liegt, lassen effektive Maßnahmen zum Eindämmen des Wuchers aber auf sich warten. Der sogenannte ÖREK-2030-Umsetzungspakt „Bodenstrategie für Österreich“ – ausgearbeitet von Forschung, Politik und Verwaltung – liegt seit November 2022 in finaler Fassung vor und wartet auf den politischen Beschluss. Er dient der „Reduktion der weiteren Flächeninanspruchnahme und Bodenversiegelung bis 2030“. Anfang Mai richteten Forscher der „Scientists4Future“ deshalb einen offenen Brief an die Politik, mit der dringenden Frage, wann es endlich zur Umsetzung komme.

Nachdem sich im Vergleich zu anderen Ländern in Österreich generell nicht so viele Fußballfelder aus- und uns jeden Tag weitere Felder verloren gehen, hat eine NGO beschlossen, nicht mehr zu warten. Der Verein „AllRise“ hat Ende März ein Crowdfunding gestartet, das noch bis Ende Mai läuft und auf die Finanzierung einer Staatshaftungsklage abzielt. „Wir wollen den Menschen in Österreich zeigen, dass es Rechtsmittel gegen die Untätigkeit der Politiker:innen gibt, und dass wir diese gemeinsam nutzen können. Schließlich zahlen wir alle für das Versagen der Politik“, heißt es in einer Aussendung vom Anwalt Wolfram Proksch, der den Fall juristisch begleitet und sich unter anderem auf Umweltverträglichkeitsprüfungen spezialisiert hat. Die gemeinnützige Organisation erlangte Bekanntheit durch eine solche Klimaklage gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro wegen der Zerstörung des Amazonas. Prominente Unterstützung kommt beim Vorhaben in Österreich mit den renommierten Experten Franz Essl und Helga Kromp-Kolb aus der Forschung.

Mit ihren Anliegen sind die Kritiker des Flächenwuchers jedenfalls nicht allein. In ganz Österreich entstehen Bürgerinitiativen gegen die Verbauung von Orten, die sich gegen überdimensionierte Einkaufszentren und Parkplätze wehren, und generell gegen den Verbau der Republik. Es bleibt zu hoffen, dass es – nach Regierungsprogramm, ausgearbeiteten Strategiepapieren und Staatshaftungsklage – eines Tages vielleicht doch auch in Österreich heißen wird: Lieber bremsen statt betonieren.


Sarah Kleiner, geboren 1991 in Oberösterreich, arbeitet in Wien als freie Journalistin. Sie ist Chefin vom Dienst beim ORIGINAL Magazin und schreibt nebenher auch für das Ressort „Forschung Spezial” des Standard.


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