Würde einfach nur einer den Mund aufmachen

Von Verena Roßbacher

Über zehn Jahre nach „Brooklyn“, dem ersten Buch, das sich der irischen Auswanderin Eilis widmet, erschien nun auch in deutscher Übersetzung die Fortsetzung „Long Island“. Für alle, die nun in hektische Sorgen geraten: Nein, man muss das Vorgängerbuch nicht gelesen haben, um das aktuelle zu verstehen, es erschließt sich alles ganz wunderbar über die Handlung und die kleinen Rückblenden. Sollte man „Brooklyn“ allerdings noch nicht kennen, empfehle ich doch, sich alle beide vorzunehmen – es macht meiner Meinung nach immer Laune, den Lebensweg eines Buchhelden über einen großen Zeitraum hinweg zu verfolgen.


Colm Tóibín
Long Island
Roman
320 S., Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-27947-6, 2024


Colm Tóibín lässt diese Geschichte zwanzig Jahre nach Eilis Ankunft in den USA beginnen. Eilis Lacey ist verheiratet mit dem Italoamerikaner Tony und hat zwei fast erwachsene Kinder. Ihre sortierte, geruhsame und durchaus glücklich zu nennende Existenz wird jedoch plötzlich ordentlich aufgemischt, als eines Tages ein ihr unbekannter Mann vor der Tür steht. Ohne Umschweife teilt er ihr mit, ihr Mann Tony habe in seinem Haus nicht nur die erwünschten Klempnerarbeiten erledigt, sondern nebenbei auch seine Frau geschwängert. Er plane, das Kind, sobald es auf der Welt sei, zu ihnen zu bringen, zur Not lege er es auf die Türschwelle. Er würde es jedenfalls nicht in seinem Haus dulden.
Man könnte dies nun als bloße Drohung abtun, Eilis jedoch schätzt die Lage richtig ein: Der Mann ist aus Irland wie sie, was er sagt, das gilt. Es wird, so sie nichts dagegen unternimmt, genau so ablaufen, wie von ihm prophezeit.

Ihre angeheiratete italienische Großfamilie, die in diversen Häusern in allernächster Nachbarschaft lebt, macht die ganze Situation nicht gerade einfacher. Sie scheinen, alle schon wohl informiert über den Sachverhalt, fest entschlossen, dieses neue Kind in die Familie einzugemeinden und als das ihre anzunehmen. Darüber sprechen wollen sie aber nicht. Überhaupt wird zwar viel geredet, aber wenig gesagt, und das steht dem mannigfaltigen Schweigen, wie Eilis es aus Enniscorthy kennt, dem kleinen Ort in Irland, aus dem sie ursprünglich stammt, in nichts nach. Das erleben wir auch gleich in der Praxis, denn dorthin flieht sie, nachdem weder Tony noch seine Familie dazu bereit ist, ihr zu versprechen, dieses Kind nicht bei sich aufzunehmen. Sie sagen nicht explizit, dass sie es tun werden, aber sie weisen den Gedanken auch nicht von sich und bei all dem Herumgedruckse wird völlig klar: Dieses Kind wird bei ihnen leben, im schlimmsten Fall bei ihr und Tony selbst.

Zurück in ihrer alten Heimat ist sie konfrontiert mit ihrer Mutter, ihrer alten Freundin Nancy und ihrer Jugendliebe Jim, der insgeheim mit ebenjener Nancy verlobt ist. Es entspinnt sich zwischen Eilis, Jim und Nancy eine komplizierte Dreieckskonstellation, die nicht eben einfacher wird durch eine Atmosphäre der ständigen Beobachtung von jedem durch jeden, durch das Verschweigen von alldem, was nottäte, gesagt zu werden und durch die insgesamte Bigotterie und Engstirnigkeit in der irischen Kleinstadt. Hier herrscht eine Stimmung, die der auf Long Island gar nicht so unähnlich ist.
Tóibín entfaltet nun eine geschickte Erzählkonstruktion, die es ihm erlaubt, sich immer wieder ganz nah an einer Figur entlangzubewegen und sodann zur nächsten zu wechseln. Wir als Leserinnen und Leser wissen dadurch jeweils mehr als die Protagonisten, wir ahnen das Kommende und können nur tatenlos dabei zusehen, wie es seinen Lauf nimmt.

Wie so häufig kommt man zu dem Fazit, dass alles nicht so schlimm käme, wenn die Leute nur gescheit miteinander reden würden. Die Leute reden aber in den seltensten Fällen gescheit miteinander, sie tun das in der Realität nicht und sie tun es in Büchern nicht. Dieses Versagen beobachtet Tóibín so messerscharf und so unkorrumpierbar, dass man verblüfft ist, welch große Tragik sich da nach und nach vor einem entfaltet hat, fast unmerklich, aus einer fast banalen Alltäglichkeit heraus. Die Souveränität, mit der er dies tut, die ruhige Hand, mit der er das Schicksal seiner Protagonisten miteinander verwebt, zeugen von einem Können, das angenehm beruhigend wirkt. Es ist immer schön zu wissen, dass ein Autor weiß, was er tut, wenn man sich ihm lesend überlässt, und hier ist man gut aufgehoben in der Hand eines Meisters. 


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