Zukunftsmusik
Künstliche Intelligenz könnte zur Schlüsseltechnologie am Weg zur nachhaltigen Gesellschaftwerden.
Von Sarah Kleiner
In der Dauerausstellung „Understanding AI” im Linzer Ars Electronica Center hat sich vor einer Installation eine kleine Warteschlange gebildet. „Pinocchio” heißt sie, zwei überdimensionale Industrieroboterarme ragen aus der Wand, an ihnen befestigt jeweils eine Marionette. Die Roboterarme wurden so programmiert, dass sie die feinen Bewegungen einer menschlichen Puppenspielerin imitieren. In weiterer Folge soll gar eine Künstliche Intelligenz (KI) das Puppenspiel erlernen und selbst neue Stücke erschaffen.
Ob beim Scrollen durchs soziale Netzwerk, bei den Ergebnissen einer Suchmaschine, manchmal sogar beim Ansuchen um einen Kredit: Künstliche Intelligenz ist bereits ständiger Teil unseres Lebens. Selbstlernende Systeme werden mit umfassendem Datenmaterial angereichert und liefern über Algorithmen – quasi vorstellbar als mathematische Formeln – Ergebnisse, die die Wahrnehmung und Entscheidungsfindung des Menschen immer besser replizieren. Vor allem aber ermöglicht die KI, die die Analyse von Daten aus der Vergangenheit nutzt, um zu lernen, präzise Vorhersagen über die Zukunft zu machen. Und das macht sie interessant für den Klimaschutz.
Wir sagen das Energienetz für die nächsten 24 Stunden
voraus, um die Energienutzung im Gebäude so abzuändern, dass Erneuerbare dann genutzt werden, wenn sie gerade in
hohem Ausmaß da sind.
Von Linz zur künstlichen Sonnenenkraft
„Österreich ist in einem speziellen Bereich bei KI für den Klimaschutz weltweit federführend“, sagt Sepp Hochreiter am Telefon, fünf Kilometer Luftlinie vom Ars Electronica Center entfernt. „Wir haben mithilfe des LSTM zum Beispiel hydrologische Modelle gebaut, die berechnen, wie sich Temperatur, Schneefall und Regen auf den Wasserstand in Flüssen auswirken, um Trockenheit oder Überschwemmungen vorherzusagen.” Diese hydrologischen Modelle haben die physikalischen, die auf mathematischen Berechnungen beruhen, abgelöst und zu einem Paradigmenwechsel in der Wetter- und Klimaprognose geführt. Die kanadische und amerikanische Regierung nutzen solche Modelle mittlerweile für ihre Klimaprognosen, auch Israel zeigt sich interessiert. „Wir können mit diesen Modellen auch vorhersagen, was passieren würde, wenn es in Österreich um zwei Grad wärmer wäre. Wie schnell würde der Schnee schmelzen, was würde passieren?“
Sepp Hochreiter ist eine Koryphäe am Gebiet der KI. Er leitet das Institut für Machine Learning an der Johannes Kepler Universität in Linz und ist vor allem bekannt für die Erfindung einer Art Kurzzeitgedächtnis der KI. LSTM steht für „long short-term memory“. Sogenannte Neuronale Netze, also Systeme, deren Lernfunktion auf Informationsweitergabe von einer Ebene zur nächsten beruht – ähnlich dem menschlichen Gehirn –, nutzen dieses Gedächtnis, um besser lernen zu können. Sepp Hochreiters Entwicklung kommt mittlerweile in jedem Smartphone, jedem Sprachassistenten zum Einsatz, Google, Apple und Amazon haben seine Erfindung aufgegriffen.
Moderne KI-Systeme können auf diese Art beispielsweise dabei helfen, optimale Standorte für erneuerbare Energien zu finden. Sie werten Daten aus dutzenden Jahren meteorologischer Messungen aus, analysieren, filtern und korrelieren sie. Das ist essenziell für die Energiewende, denn der Betreiber einer Windkraftanlage muss wissen, wieviel Strom er am nächsten Tag erzeugt, um ihn verkaufen zu können. Wasserkraftwerke an Flüssen müssen auf starke Regenfälle vorbereitet sein, auch die Wassermenge in Stauseen muss dahingehend reguliert werden.
Außerdem stabilisieren präzise Prognosen das Stromnetz. Denn wenn man weiß, wo in den nächsten Stunden besonders viel Sonne scheint, so kann man die Zuschaltung von Energiequellen dahingehend steuern. Durch die KI kann man also Probleme in Energienetzen erkennen, bevor sie entstehen. Hochreiter sagt, KI sei das neue Öl. Vielleicht könnte die Künstliche Intelligenz sogar zur absoluten Wende hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung beitragen, durch Kernfusion.
Bei dieser werden zwei Atomkerne miteinander verschmolzen, wodurch Energie freigesetzt wird. Im Falle der Energieerzeugung im Kraftwerk werden die Wasserstoffsorten Deuterium und Tritium zu Helium verschmolzen – ähnlich, wie es permanent in der Sonne passiert. Ein Gramm Brennstoff könnte in einem solchen Kraftwerk 90.000 Kilowattstunden Energie erzeugen – die Verbrennungswärme von elf Tonnen Kohle. Bisher war aber ein wesentliches Problem, das Millionen Grad heiße Plasma in Schwebe zu halten. Forscher des Unternehmens „Deepmind“ schalteten bei einem Versuch im Forschungsreaktor des Schweizer Plasmacenter der Technischen Hochschule Lausanne alle dafür eingesetzten Sensoren und Elektromagneten in einem riesigen neuronalen Netzwerk zusammen und trainierten die so entstandene Künstliche Intelligenz im Simulationsmodus. Die Kernfusion, die so klimafreundliche Energie in fast unendlichem Ausmaß liefern könnte, ist damit zwar noch lange nicht ausgereift, aber einen Schritt weiter.
„Die zwei Haupttechniken, die das Team von ‚Deepmind‘ eingesetzt hat, wurden hier in Linz entwickelt“, sagt Hochreiter. Neben dem LSTM waren das auch die ELUs, „exponential linear units“. Letztere sind eine Aktivierungsfunktion im Neuronalen Netz, die bei jedem Neuron im Netzwerk entscheidet, ob und welche Information von den verschiedenen Ebenen an die nächste weitergegeben werden.
Effiziente Städte
„KI ist beim Klimaschutz generell eine Basistechnologie, um Dinge effizienter zu machen“, sagt Lucas Spreiter, „der allerwichtigste Bereich ist aber definitiv der Energiebereich.“ Spreiter hat 2018 mit anderen das Start-up Unetiq in Bayern gegründet, das sich auf KI-Lösungen im Bereich Nachhaltigkeit und Klimaschutz spezialisiert. Aktuell sei er insbesondere mit dem EU-geförderten Projekt „AI4Cities“ betraut, „bei dem es darum geht, Städte nachhaltiger zu machen“. Das geschieht beispielsweise dadurch, dass Gebäude effizienter gemacht werden. „Wir sagen das Energienetz für die nächsten 24 Stunden voraus, um die Energienutzung im Gebäude so abzuändern, dass Erneuerbare dann genutzt werden, wenn sie gerade in hohem Ausmaß da sind.“
Das geht zum Beispiel, indem Klimaanlagen nur dann laufen, wenn sie tatsächlich gebraucht werden, Räume nur dann beheizt werden, wenn sich später Menschen darin aufhalten oder Elektroautos zu den Zeitpunkten geladen werden, wenn gerade viel Energie aus erneuerbaren Quellen da ist. „All die Dinge, die flexibel in einem Gebäude sind, versuchen wir auf der einen Seite erneuerbare Energien nutzen zu lassen, und auf der anderen Seite generell das Gebäude intelligent zu steuern“, sagt Spreiter. Verbunden ist dieser Prozess aber immer auch mit der Datenerhebung – in dem Fall Sensoren, die aufzeichnen, wann sich Menschen in einem Raum aufhalten.
Auch für die Flexibilisierung des Individualverkehrs kann die KI in Städten genutzt werden. Intelligent gesteuerte Ampeln passen sich dem momentanen Verkehrsaufgebot an, um zu lange Rotphasen, in denen unnötige Emissionen entstehen, zu vermeiden. Routenplanung, die berücksichtigt, in welchen Gebieten die Feinstaubbelastung gerade hoch ist und diese für den Verkehr sperrt, bis wieder Normalwerte erreicht sind. Spricht man mit den Forschern über die Stadt der Zukunft, so zeichnet sich ein Bild einer maximal flexiblen Stadt, in der die Route, die ich in der Früh mit meinem Auto wähle und wo ich mein Auto dann parke, dadurch bestimmt werden, wo am Abend wenig Verkehr für die Rückfahrt sein wird.
Aktuell diskutiert das EU-Parlament den „AI Act“, der erstmals die Verwendung von automatisierten Entscheidungen, Algorithmen und KI-Systemen im EU-Raum regeln soll. Der aktuelle Gesetzesentwurf erntete viel Kritik, von zivilgesellschaftlicher Seite ist die Rede von Überwachungskapitalismus, Juristen und Techniker bemängelten die undifferenzierte Ausarbeitung. Das Gesetz könnte die Grundlage für ein Social-Credit-System nach Vorbild Chinas ebenso legen, wie die von flächendeckender Gesichtserkennung und vielen anderen Horrorszenarien. Denkt man an die mit unzähligen Kameras und Sensoren ausgestattete Welt, kann einem bang werden. Was, wenn das System, das hier gerade entsteht, missbraucht wird? Doch hängt Überwachung tatsächlich an den Technologien, die es gibt? Auch in der DDR hat die Überwachung der Bevölkerung exorbitante Ausmaße erreicht, ohne ein technologisch vergleichbares Überwaungs-netz. Zum schlimmsten Feind konnte nicht die Technik sondern der Nachbar werden.
Tipp der Redaktion
Gespräch mit Lucas Spreiter im
ORIGINAL-Podcast
original-magazin.at/podcast
Antonio oder Geppetto
Im Märchen Pinocchio gibt es die Figur des Antonio. Der Tischler entdeckt ein Stück Holz, das in der Lage ist, zu sprechen. Er bekommt es mit der Angst zu tun und übergibt das merkwürdige Scheit einem befreundeten Holzschnitzer – Geppetto. Der wiederum ist begeistert von der Entdeckung. Er schnitzt sich eine Puppe daraus, Pinocchio, die ab diesem Zeitpunkt versucht, brav zu sein, um eines Tages tatsächlich zu einem Buben aus Fleisch und Blut zu werden. Das Märchen wurde vor rund 140 Jahren verfasst, und doch kann man eine schöne Metapher für das digitale Zeitalter daraus ziehen.
Pinocchio ist die Künstliche Intelligenz. Der Mensch zieht nun entweder den Schluss, dass diese eine Bedrohung für unser Zusammenleben ist – die Antonio-Position. Da wir nicht wissen, wofür diese Technologien in Zukunft noch eingesetzt werden, sollten wir sie erst gar nicht etablieren. Oder man nimmt die Rolle des Geppetto ein, der die Kuriosität begrüßt und zurecht schnitzt, optimistisch dahingehend, dass er immer Methoden haben wird, Pinocchio im Griff zu behalten. Und dann gibt es natürlich noch die vielen Grautöne daneben und dazwischen, die Pessimisten, die Agnostiker, die Glorifizierer. Wie bei allen Technologien, von Atomkraft bis hin zum Raketenantrieb, wird es wohl auch bei der KI davon abhängen, wie der Mensch sie nutzt und ob er es schafft, die Kontrolle in Form von Gesetzen und Rahmenbedingungen über sie zu behalten. Ausschließen können wir zumindest, dass sie eines Tages ein Mensch aus Fleisch und Blut sein wird. Oder?