Zurück zum Luxus
ORIGINAL Kolumne von Sarah Kleiner
An manchen Orten ist die Welt noch in Ordnung. Auf dem Hof meiner Bekannten in Oberösterreich gackern die Hühner. Die Gänse krächzen in ihrem Gehege, sie machen ähnliche Geräusche wie fauchende Katzen, wenn sie sich bedroht fühlen – und momentan wird gebrütet. Auch Gemüse und Früchte wachsen hier. Es gibt Brombeeren, Maulbeeren, Erdbeeren, die von Hand gepflückt werden und noch nie mit Chemikalien in Berührung gekommen sind. Die Marmeladen, die daraus entstehen, sind einfach nur ein Traum.
Solche Lebensmittel sind zum Luxus und die Diskussion über den Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden in der Landwirtschaft ist eine emotionale geworden. An erster Stelle geht es um die Gesundheit von Mensch und Umwelt, aber auch um Geld, um Existenzen, um Konzernprofite und die Unabhängigkeit der Wissenschaft, um die Zuverlässigkeit von behördlichen Bewertungen. Viel ist angesichts der Tragweite dieser Diskussion in den Medien aber zurzeit nicht zu hören, vor allem wenn man bedenkt, dass die Zulassung für Glyphosat in der EU vergangenen November wieder um zehn Jahre verlängert wurde.
Nachdem das EU-Parlament keine qualifizierte Mehrheit in der Frage „Zulassung ja oder nein?“ finden konnte, entschied die Kommission, dass das meistgenutzte Herbizid Europas auch weiterhin verwendet werden darf. Sechs europäische Umwelt-NGOs, darunter „Global 2000“, haben nun Anfang des Jahres rechtliche Schritte gegen diese Entscheidung eingeleitet – sie soll von der Kommission intern erneut überprüft werden. Diese hat bis Ende Juni Zeit, um zu antworten. Münde das nicht in den Widerruf der Zulassung, so würden die NGOs vor Gericht ziehen, wie sie per Aussendung bekannt gaben. „Wir haben hier gute Chancen, ein Grundsatzurteil zu erwirken, das weit über Glyphosat hinausgeht“, sagt Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei „Global 2000“, „weil es hier um eine Bewertung des Umgangs der Behörden mit wissenschaftlicher Evidenz in Zulassungsverfahren geht.“
Die Gründe für das Vorgehen sind dieselben wie bei mehreren bisherigen Anzeigen. Kurz zusammengefasst: Laut WHO-Einschätzung von 2015 ist Glyphosat „wahrscheinlich krebserregend“ für den Menschen. Doch Institutionen wie die EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit), die ECHA (Europäische Chemikalienagentur) oder das deutsche BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) kommen bei ihren Einschätzungen zum Ergebnis, Glyphosat sei weniger oder kaum schädlich für den Menschen. Die Frage ist: Wie können die Bewertungen der wissenschaftlichen Befunde so unterschiedlich ausfallen?
Seit Jahren liegen dahingehend Vorwürfe gegen den Hersteller „Monsanto“ (heute in den Konzern „Bayer“ integriert) und die involvierten Behörden auf dem Tisch: mangelhafte (Hersteller-)Studien, die zur Entscheidung über die Zulassung herangezogen wurden; falsche Interpretation von unabhängigen Studienergebnissen, die eine krebserregende Wirkung des Herbizids erkennen; Hersteller, die auf behördliche Bewertungen Einfluss nehmen; Behörden, die wissenschaftliche Beurteilungen wortwörtlich von den Herstellern abschreiben. Unter anderem durch die Veröffentlichung der „Monsanto Papers“ wurden umfassende Einblicke in das Vorgehen des Konzerns publik. Umso wichtiger ist es, diese Vorwürfe nicht unter den Tisch fallen zu lassen und hier endlich für Aufklärung zu sorgen. Und umso wichtiger wäre es, die Akte Glyphosat auch journalistisch wieder aufzumachen.
2022 wurden in Österreich immerhin rund 240 Tonnen des Herbizids in Verkehr gebracht, etwa 90 Prozent davon in der Landwirtschaft. Viele Bäuerinnen und Bauern können sich ihre Betriebe ohne Pestizide gar nicht mehr vorstellen. Sie fürchten, nicht denselben Ertrag erwirtschaften zu können, wenn nicht mit chemischen Unkraut- und Schädlingsvernichtern die Ernte gesichert wird. Bei der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der sich viele von ihnen befinden, kann man diese Ängste durchaus verstehen. Das Dilemma dabei: Vor allem Landwirte und Feldarbeiter sind es, die am meisten unter den gesundheitlichen Folgen der Chemikalien, mit denen sie hantieren, leiden.
Politisch sind Pestizidverbote jedenfalls nicht umsetzbar, ohne systemisch zu denken und an vielen anderen Schrauben zugleich zu drehen. Grob gesagt steht die Politik vor der nicht minder großen Frage: Wie kann man die europäische bzw. österreichische Landwirtschaft auch ohne den Einsatz von Pestiziden wie Glyphosat in einem globalisierten Lebensmittelmarkt wettbewerbsfähig halten? Und je schneller darauf Antworten gefunden werden, desto eher sind pestizidfreie Marmeladen nicht mehr Luxus und die Ausnahme, sondern die Regel.
Sarah Kleiner, geboren 1991 in Oberösterreich, arbeitet als Journalistin in Wien. Sie leitet die Produktion des ORIGINAL-Magazins und publiziert in diversen Medien, wie zum Beispiel in der Forschungsbeilage „Forschung Spezial” des Standard.