Zu Fuß zu sich selbst

Essay von Ulrich Grober

Die Lust am Wandern lässt sich auf vielfältige Weise ausleben: als geselliger Freizeitspaß oder sanfter Natursport, als meditatives Gehen oder Survival-Training. Ein zeitgemäßes Wandern schließt ganz unterschiedliche Praktiken mit ein: Genusswandern in der Kulturlandschaft, Trekking, das junge, wilde Wandern. Oder Pilgern, das „Gebet mit den Füßen“. Alles hat seine Berechtigung, nichts ist unmöglich: Bergstiefel oder Turnschuhe, Schneeschuhe oder barfuß. Mich interessiert besonders die nach oben hin offene Skala der Möglichkeiten. Die fließenden Übergänge, wo das Wandererlebnis in die tiefe Erfahrung von Natur – und Kosmos – übergeht, wo die Kunst des Wanderns sich berührt mit Lebenskunst und deren Kern: Selbsterfahrung und Selbstsorge. Wo beim Gehen das Tagträumen einsetzt – und die Sinnsuche. Wie können auf den Wegen durch das Land Glücksmomente, Flow-Gefühle und Gipfel-Erlebnisse entstehen?

Wandern ist Einspruch gegen den Stress der Beschleunigung. Eine Wanderung nimmt für eine begrenzte Zeit das Tempo aus dem Alltag, reduziert es auf das menschliche Maß – den Fuß, den Schritt, die drei bis fünf Kilometer pro Stunde. Also das Maß, das dem Menschen von seiner Anatomie vorgegeben ist, seit er in der Morgenröte seiner Evolution den aufrechten Gang entdeckte. Eine Wanderung – egal ob drei Stunden, drei Tage oder drei Wochen – ist die einfachste und natürlichste Form der Entschleunigung. In dieser „Auszeit“ klinkst du dich ein in die „Echtzeit“ von Sonne, Mond und Sternen, in die Zyklen und Rhythmen der Tages-, Jahres- und Lebenszeiten.

Wandern ist auch Einspruch gegen die übermäßige Digitalisierung und damit Entsinnlichung des Alltags. Wer schon mal frei schweifend gewandert ist, kennt Alternativen zum reglementierten Stop-and-Go-Verkehr der Metropolenräume. Wer die Farbenpracht eines herbstlichen Laubwalds gesehen hat, nutzt die Farbskalen der Design-Software souveräner. Ohne die direkte Erfahrung von Nahräumen, so scheint es, bleibt die Wahrnehmung globaler Räume oberflächlich. Ohne das eigene Erleben in begehbaren Räumen ist man den medial vermittelten Bildern ausgeliefert. Virtuelle Realitäten werden nur im Gegenlicht von realen Erfahrungen produktiv. Erst im Pendeln zwischen den Welten, in der Kontrasterfahrung erschließt sich die ganze Fülle des Lebens. Es geht um die Ökologie der Sinne. „Mit allen Sinnen“ wahrnehmen: Blickachsen, Hörräume, Duftfelder, das Mikroklima, den Boden unter den Füßen. Und immer wieder pendeln: zur Innenschau, der Zwiesprache mit sich selbst, dem Hören auf die innere Stimme. Tagträumen ist die Keimzelle von Kreativität. Wandern stillt den Hunger nach Realität, nach Sinnlichkeit und Schönheit.

Wandern ist ein Lebenselixier. Man fühlt sich auf eine ganz besondere Weise … lebendig.
Regelmäßige Bewegung – im Sinne von Eigenbewegung, Bewegung aus eigener Körperkraft – und gesunde Ernährung bilden die Basis der eigenen Gesundheit und Kreativität. Besser als Krankheiten heilen ist: gar nicht erst krank werden. Damit rücken die Entstehung und Erhaltung der Gesundheit, die „Salutogenese“, in den Fokus. Jetzt geht es um die Stärkung des Immunsystems und damit um „Resilienz“. Das ist die Widerstandskraft von Organismus und der Seele gegen Störungen aller Art. Ziel ist die Mobilisierung von Selbstheilungskräften. Eigenbewegung ist nachhaltig. Muskelkraft ist eine erneuerbare Energie. Sie speist sich aus nachwachsenden Rohstoffen. Was macht Menschen stark? Resilienz ist: flexible Stärke. Sie ist Teil von Selbstsorge und Selbstermächtigung.

Wellness ist nicht alles. Auch die Strapaze gehört zum Wandern. Manchmal gehst du an deine Grenzen, aber dosiert, selbst auferlegt, selbstbestimmt. Du arbeitest für eine gewisse Zeit am Limit, aber verlierst nicht die Kontrolle. Sobald du öfters an deine Grenzen gehst, merkst du, die Grenze bleibt nicht an derselben Stelle. Sie verschiebt sich. Oder besser gesagt: Du verschiebst sie. Deine Fähigkeiten wachsen mit den Herausforderungen, die du erfolgreich bewältigt hast. Die Erfahrung, dass du standhältst, ist von enormer Bedeutung für die Bildung von Resilienz. Insbesondere für Kinder, die sich ja mitten in Wachstumsprozessen – körperlich, emotional, seelisch – befinden. Wer beim Wandern solche Situationen gemeistert hat, geht mit Stresssituationen im Alltag gelassener um. Du weißt: Da geht noch was.

„Fremd im eigenen Land“. Das in der Gesellschaft gerade virulente Grundgefühl muss dringend angesprochen und überwunden werden. Bevor die Fundamentalisten jeglicher Couleur weiter marschieren, „bis alles in Scherben fällt“. Das neue Wandern trägt dazu bei, Vertrautheit und Verbundenheit mit den Nahräumen herzustellen oder wieder zu stärken. Wer sich die eigene Region, also die Heimat, und die benachbarten Räume auf den lokalen, regionalen und Fern-Wanderwegen „erwandert“, wird das Gefühl der „Fremdheit“ ablegen und sich im eigenen Land „zu Hause“ fühlen. Man lernt, diese Empathie auf unbekannte Räume zu übertragen: „I feel at home whenever the unknown surrounds me“, singt die isländische Pop-Ikone Björk in ihrem Song „Wanderlust“. Das deutsche Wort ist schon um 1900 als Lehnwort ins Englische, die Sprache der Globalisierung, eingewandert. Dort meint es vor allem: Lust am freien Schweifen, an selbstbestimmter Orientierung – Freiheitsdrang. Die neue Wanderlust antwortet auf das Nomadische in unserem Bewusstsein.


„Es gibt gute Mittel gegen die Schwermut“, schrieb Hermann Hesse 1920, vor gut 100 Jahren. Eins davon ist das Wandern. In Zeiten einer Multikrise aus Krieg und Hunger, Pandemie, Depression und epochalen Brüchen durchstreifte er die Landschaften am Bodensee und im Tessin, überquerte den Alpenkamm. „Wo werde ich diesen Abend schlafen? Einerlei! Was macht die Welt? Sind neue Götter erfunden, neue Gesetze, neue Freiheiten? Einerlei! Aber dass hier oben noch eine Primel blüht und Silberpelzchen auf den Blättern trägt, und dass der leise süße Wind dort unten in der Pappel singt, und dass zwischen meinem Auge und dem Himmel eine dunkelgoldene Biene schwebt und summt – das ist nicht einerlei.“ (aus: „Wanderung. Aufzeichnungen“, 1920).

Sommerseligkeit, Leichtigkeit des Seins? Geht das noch? Heute, 2025! Am besten man macht sich selbst auf den Weg – und auf die Suche.

Ulrich Grober arbeitet als Publizist und Buchautor auf dem Themenfeld Ökologie und Nachhaltigkeit. Sein besonderes Anliegen ist die Verknüpfung von kulturellem Erbe und Zukunftsvisionen. Er schrieb für DIE ZEIT, taz, greenpeace magazin, Deutschlandradio, WDR und viele andere Medien. Sein aktuelles Buch „Die Sprache der Zuversicht. Inspirationen und Impulse für eine bessere Welt“ erschien 2022 im oekom Verlag.


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