Trottel

Schon lange wurde ich von einem Autor in seinem Buch nicht mehr mit „Liebe Kinder“ angesprochen, ach, was sage ich, noch nie! Aber ich muss sagen, mir gefällt das. Faktor macht das immer dann, wenn er uns irgendein kleinteiliges DDR-Detail erklären muss – nicht, dass er es immer täte, er hat dazu allzu häufig auch gar keine Lust. „Meine lieben Kinder“, sagt er dann gerne väterlich, und dann erklärt er uns was, oder eben auch nicht. Und dabei ist das absolut Merkwürdige und wirklich Bezaubernde an diesem Buch, dass es – mir fällt kein besserer Begriff ein – so jung wirkt. Es ist das Buch eines jungen Mannes, und das ist angesichts seines Jahrgangs (1951) immerhin zum Aufhorchen. Es ist es in der überbordenden Sprache, im Kapriolenschlagen, in der Spielwütigkeit und der Albernheit, in seiner Unbekümmertheit und Gnadenlosigkeit, in seiner Leidenschaft und seiner absolut hinreißenden Komik, der nichts, aber auch gar nichts heilig ist, in seiner Härte. (Vonwegen jung: Zuletzt erging mir das so, als ich das erste Mal Jane Gardam las – was macht die da eigentlich, dachte ich betört, was ist das für ein guter, ungewöhnlicher Sound, ist es, wie sie die Sachen baut, ist es eine leichte Verschiebung, ist es eine Promptheit, die ihr, weiß der Teufel wie, gelingt, oder ganz was anderes? Bei Gardam und Faktor jedenfalls kann man wunderbar erkennen, dass man mit Zwanzig durchaus klingen kann wie ein Opa und mit Siebzig wie ein Jung-spund.)

Jan Faktor
Trottel
Roman
400 Seiten
ISBN: 978-3-462-00085-6
Kiepenheuer & Witsch, 2022
Das Buch ist natürlich eine Zumutung, in allem, in den tausenderlei Ab- und Umwegen, die der Autor geht, in der Frechheit und Rüdheit (legendär, wenn er über seine Frau spricht, man ahnt, wie grandios er ihr auf die Nerven gehen muss, und wie wahnsinnig gut er sie daneben aber eben auch unterhält, unterm Strich keine allzu üble Rechnung), in den hunderttausend Fußnoten, in der Schamlosigkeit, in der Verweigerung jeglicher Sentimentalität. Ein Wust an Erinnerungen, an die frühe Kindheit und Jugend in Prag, den späteren Umzug nach Ostberlin, die Dissidenten-Kreise im Prenzlauer-Berg, ein Nachdenken über Sprache und über Bücher und über Gewinde aller Art, ein Aufnehmen von aktuellen Fragen (die Genderthematik löst er aggressiv-progressiv, indem er wahllos seine wie auch immer gearteten Anhängsel in der Gegend verteilt, liebe Studentissinnen und Stutentate, Leserandin und Doktorand, Omnibustanten und Barkaspaten, liebe Seegurken und Untergürtelspäher usw.) – und wie nebenbei erzählt er ganz schön viel Zeitgeschichte und spricht von einem Ort und einer Zeit, die es nicht mehr gibt. Und wiewohl er kein bisschen verklärt dabei ist (er hat bei Gott keinen Grund dazu), versteht man plötzlich die Wehmut, die immer auch mitschwingt. Wehmut ist ja interessanterweise nicht daran gebunden, dass etwas gut war. Sie kommt, wenn etwas vorbei ist. Diesbezüglich gehört „Trottel“ für mich wie auch Seilers „Stern 111“ zu den Büchern, die uns diese Zeit und diesen Ort erzählen, wie etwas sehr Archaisches und Gewaltiges, das einen für immer prägt – etwas sehr Fremdes auch. Sie kommen aus einem sehr fremden Land, das vorbei ist, und sie berichten uns davon, auch mit Wehmut.
Abgesehen von all dem erzählt Faktor vom Freitod seines Sohns. Und das tut er ruhig, präzise, ganz klar, ohne Spielerei. Er ist dort plötzlich ein ganz anderer Erzähler, als würde er sich austoben müssen in den ganzen Narreteien und den allerkomischsten Volten, um diese Ruhe dann auszuhalten und um das erzählen zu können, was eigentlich nicht erzählbar ist.
Man ist fast verblüfft, wie viel man schlußendlich erfahren hat, wo man überall war, was alles verhandelt wurde, aber alles wie nebenbei; verblüfft auch, wie sich das System dieses Buchs erst nach und nach erschließt. Bei all dem Gequatsche hat er einen mächtigen Bogen geschlagen, er trug die lieben Kinder mit leichter Hand durch unwegsames Gelände und setzt sie hernach sanft nieder, deutlich zerzaust und vollkommen durchgenudelt ob des Gebotenen. Ziemlich gut.